Von virtuellen Festen, weihnachtlicher Wehmut und der Entscheidung, ob man Angehörige trifft: Wie eine Familie, eine Studentin und ein älteres Ehepaar in diesem Jahr feiern wollen.
Das Weihnachtsfest von Herbert und Elfi Becker findet heuer auf ihrem kleinen Wohnzimmertisch im Altenheim statt. Vorbereitet ist schon alles: Der Heimdirektor hat auf ihrem Laptop Skype installiert und ihnen das Programm genau erklärt.
Lang haben sie hin und her überlegt, nun steht der Plan für den 24. Dezember: Am Nachmittag wird die Tochter den traditionellen Truthahn vorbeibringen, den die Beckers am Abend mit der Familie vor den Bildschirmen verspeisen. Und danach: Geschenke auspacken und gemeinsam per Videotelefonie Weihnachtslieder singen. „Also eigentlich fast alles wie immer“, sagt Herbert Becker.
Besonders freut er sich auf die Gesichter der drei kleinen Enkel, wenn sie die Pakete öffnen, die sie ihnen geschickt haben. Den Gottesdienst wird die ganze Familie dann per Livestream verfolgen. „Was heutzutage alles möglich ist“, wundert sich der 75-Jährige.
Zeit für Wehmut, weil er die Familie nur auf dem Bildschirm sieht, bleibt keine. „Wir sind nicht traurig, wir sind ja sowieso verbunden“, sagt er. „Es ist einfach eine moderne Art zu feiern.“ Und Becker sieht auch einen Vorteil bei der virtuellen Feier: „Wir können den ganzen Abend ohne Masken verbringen.“
Weihnachten wie damals.
Wer in Erinnerungen an ein Weihnachtsfest vor Corona schwelgt, wird schnell feststellen: Was im Vorjahr noch selbstverständlich war, klingt heuer nach Himmelfahrtskommando.
Sich in einen der überfüllten Züge setzen und nach Hause fahren. Die ganze Familie an einem Tisch versammeln und endlich wieder Zeit haben, auch die Eltern und Großeltern ausgiebig zu sehen. Gemeinsam singen, das Essen teilen und Geschenke austauschen. Sich mit alten Freunden auf einen Punsch auf dem Christkindlmarkt treffen und mit den Kollegen bei der Weihnachtsfeier eine Nacht lang durchtanzen. Das alles ist aus virologischer Sicht eine Katastrophe.
Das ganze Konzept des Fests steht im Widerspruch zu den Coronaregeln: Geht es doch gerade um das Zusammensein mit Familie und Freunden, meistens auf engstem Raum in den warmen und ungelüfteten Wohnzimmern. Die Frage, wie sehr sich die Bevölkerung an das Social Distancing zu den Feiertagen halten wird, sorgt deshalb für einen bitteren Beigeschmack in der Vorweihnachtszeit: Wird das Weihnachtsfest zu einer landesweiten Coronaparty?
Eine Angst, die berechtigt zu sein scheint, wenn man einen Blick auf aktuelle Umfragen wirft: Für 18 Prozent der Menschen in Österreich kommt ein Weihnachten ohne großes Familientreffen nicht infrage – das ergab eine kürzlich veröffentlichte Befragung des Marktforschungsinstituts Marketagent.com. Masken wollen nur die wenigsten bei den Feiern tragen. 20 Prozent gaben hingegen an, heuer auf Verwandtenansammlungen zu verzichten.
Weihnachten ist für viele Familien heilig, sagt Soziologin Pfadenhauer.
Dass Weihnachten nach Monaten des Social Distancing an der Disziplin der Österreicher rütteln wird, war vorhersehbar. Aber dass man in der Pandemie gerade durch den Wunsch, der Familie nahe zu sein, genau seine Liebsten gefährdet, scheint überraschenderweise nicht überall ernst genommen zu werden.
Das liegt wohl auch an der gesellschaftlichen Bedeutung von Weihnachten. „Aus soziologischer Sicht könnte man im Familienalltag auf alle anderen Feste verzichten – aber Weihnachten ist für die meisten heilig“, sagt die Soziologin Michaela Pfadenhauer. Es ist eine Zeit der Ausgelassenheit, ein Fest, bei dem man den Tisch üppig deckt und sich etwas gönnen möchte. Bei dem man mit Besuchen und Geschenken zeigt, dass man sich gegenseitig wertschätzt.
Weihnachten hat außerdem eine strukturierende Rolle: Es unterteilt das Jahr klar und sorgt für einen Fixpunkt, auf den man sich eigentlich stets verlassen kann. Viele Bräuche zur Weihnachtszeit werden seit Jahrhunderten tradiert und weitergelebt.
„Weihnachten überspannt die dunkle Jahreszeit, es ist wie ein Lichtblick“, sagt Pfadenhauer. „Dieses Jahr können wir zumindest von der Erinnerung zehren. Jede Familie, die eine feste Tradition hat, wird sich erzählen, wie schön es wäre, wenn man feiern könnte. Man schwelgt gemeinsam in Erinnerungen.“ Auch das kann verbinden.
Die kollektive Erinnerung an ein Weihnachten 2020 werde, ähnlich wie bei einem Weihnachtsfest zu Kriegszeiten, im Rückblick eine außergewöhnliche Rolle einnehmen. „Man wird später sagen: ,Weiß du noch, das Weihnachten, an dem wir uns nicht gesehen haben?‘“, sagt Pfadenhauer.
Alte und neue Traditionen.
Bei allem Übel: Ausfallen muss Weihnachten auch heuer nicht. Doch Kreativität und Flexibilität sind gefragt. Neben Strategien wie der Selbstisolation, inklusive Schnelltests vor dem Fest, weichen viele in das Internet aus. So auch Familie Koren-Steindl. Für die Familie aus Kärnten könnte es das erste Fest zu viert werden. „Unsere zwei Kinder haben selbst vorgeschlagen, dass wir per Videotelefonie mit dem Rest der Familie gemeinsam essen sollen“, erzählt Vera Koren-Steindl.
Ihre Kinder scheinen das Social Distancing schon verinnerlicht zu haben, denn für die achtjährige Tochter und den fünfjährige Sohn ist das Coronavirus mehr als nur eine abstrakte Krankheit. „Das Virus war auch bei uns schon zu Besuch“, sagt Koren-Steindl, die mit ihrem Ehemann, Roman, auf dem Blog „Haus No.6“ regelmäßig aus ihrem Familienalltag erzählt.
Auch die Großeltern der Kinder infizierten sich bereits mit dem Virus. Kann deshalb doch gemeinsam gefeiert werden? „Wir entscheiden das spontan, wir feiern ohnehin immer nur im engsten Kreis. Vielleicht gehen wir dieses Mal auch einfach alle gemeinsam spazieren.“
Es sind gerade Familien mit Kindern, die vor einer großen Herausforderung stehen: Kindern eine Pandemie zu erklären, die selbst Erwachsene überfordert, ist schwierig. Ihnen klarzumachen, warum man zu Weihnachten nicht wie jedes Jahr zu den Großeltern fährt, ebenso. „Wir haben versucht, den Kindern zu erklären, dass man nicht immer alles im Leben planen kann. Aber wir können uns aussuchen, wie wir damit umgehen“, sagt Koren-Steindl. „So werden wir es auch mit Weihnachten handhaben: das Beste daraus machen. Und das verstehen unsere Kinder eigentlich auch.“
Die kleinen Kinder der Familie Koren-Steindl schlugen vor, per Videotelefonie zu feiern.
Die eine oder andere lieb gewonnene Tradition wird heuer wegen der Krise ausfallen müssen. Das Krippenspiel in der Kirche etwa. Und das gemeinsame Sternspritzen am Grab der Uroma. „Ich bin aber gespannt, ob wir dafür etwas finden, was auch in den nächsten Jahren zu einer neuen Tradition werden kann“, so die Kärntnerin.
Die Vorweihnachtszeit biete nun eine Chance: zu überlegen, was Weihnachten für einen selbst eigentlich bedeutet. „Natürlich wird es für viele das Treffen mit der Familie sein. Aber für manche ist es vielleicht auch ein spezielles Essen oder das Funkeln des Christbaums.“ So könne trotz des Social Distancing Weihnachtsstimmung aufkommen. Und manchen Traditionen kann auch die Pandemie nichts anhaben: Die Briefe an das Christkind sind bei Familie Koren-Steindl jedenfalls schon verschickt.
Und: Nicht alles, was heuer ausfallen wird, bedauert Koren-Steindl. „Was vor allem wegfällt, ist das Getriebene“, sagt sie. Und meint die vielen Ausflüge und Besorgungen rund um die Weihnachtszeit. „Die Kinder haben bis jetzt noch nicht gesagt, dass ihnen etwas fehlt. Das zeigt die Zeit nämlich auch: Dass Kinder dann, wenn man glaubt, es wird ihnen langweilig, einfach selbst neue spannende Dinge entdecken. Ich denke, daraus können wir alle viel lernen.“
Schwierige Entscheidungen.
Während die Kinder der Familie Koren-Steindl mit dem reduzierten Fest kein Problem zu haben scheinen, sehen das die Großeltern der Studentin Lina anders. Die 27-jährige Schweizerin studiert in Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit sieben Jahren lebt sie in Österreich, zweimal im Jahr fährt sie üblicherweise nach Hause nach Bern: im Sommer, um zu arbeiten, und zu Weihnachten, um ein großes Familienfest zu feiern.
Heuer wird Lina in Wien bleiben. „Es ist seltsam, das erste Mal nach 27 Jahren nicht mit der Familie zu feiern“, sagt sie. „Ich denke, das wird mich dann am 24. Dezember schon ein bisschen wehmütig stimmen.“
Die Entscheidung, nicht in die Schweiz zu fahren, sorgte in Linas Familie teilweise für Unverständnis. Ihre Großeltern würden es „total doof“ finden, dass sie nicht kommt, erzählt Lina. „Meine Oma ist sehr direkt. Sie hat mir gesagt, dass sie doch nicht wisse, ob sie das nächste Weihnachtsfest noch erleben wird“, sagt Lina. „Das ist hart zu hören. Im ersten Moment dachte ich nur: Mist, wie soll ich mich verhalten?“ Denn sie verstehe ihre Großmutter. „Aber ich habe mich trotzdem dagegen entschieden, auch weil ich nicht schuld sein will, wenn ich dann jemanden anstecken würde.“ Es ist eine der schwierigsten Entscheidungen, die das Corona-Weihnachten den Menschen abverlangt.
Soll man ohne die Großeltern feiern, wenn es doch ihr letztes Fest werden könnte?
Eine Entscheidung nimmt es dafür einigen Paaren ab: Wer zuvor überlegen musste, ob mit der Familie oder dem Partner gefeiert wird, der erspart sich dies in diesem Jahr in vielen Fällen. Zwei Drittel werden mit dem Partner vor dem Christbaum stehen, ergab die Studie von Marketagent. Darunter werden zum ersten Mal auch Lina und ihr Freund sein. „Sonst bin ich immer in die Schweiz gefahren, und er ist bei seiner Familie in Wien geblieben“, erzählt sie. Ihr Freund wird heuer ebenso ohne die Familie feiern, weil einige zur Risikogruppe gehören. „Das heißt, nach acht Jahren Beziehung feiern wir endlich gemeinsam Weihnachten. So hat es ja auch etwas Schönes“, sagt Lina.
Sie und ihr Freund werden den Abend aber nicht allein verbringen, sondern mit fünfzehn Freunden aus der Schweiz. Allerdings nur via Videotelefonie. „Wir werden am 24. Dezember eine Zoom-Nacht veranstalten. Alle kochen sogar das Gleiche: Berner Platte, ein traditionelles Schweizer Gericht.“ Weihnachten 2020 findet für Lina also vor dem Bildschirm statt. „Das wird sicher eine seltsame Situation“, sagt die Studentin. „Aber ganz ehrlich: Das sind wir in diesem Jahr schon gewöhnt.“ ⫻
18.12.2020 - Eva Walisch in Die Presse.
https://www.diepresse.com/5910762/
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