Angst essen Seele auf
Kennen Sie noch Emmi Kurowski? Es ist zugegeben lange her, dass ihr Gesicht über Leinwände huschte. 1974. Gespielt von Brigitte Mira. In dem Film "Angst essen Seele auf". Von Rainer Werner Fassbinder. Ein kleines Meisterwerk. Eine Sehschule dazu. Der Anfang ist auch schnell erzählt: Die sechzig Jahre alte Witwe Emmi Kurowski hat drei erwachsene Kinder. Verheiratet war sie mit einem nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gebliebenen polnischen Zwangsarbeiter. Tagsüber geht sie putzen, um ihre Rente aufzubessern; abends sitzt sie allein vor dem Fernsehgerät.
Als sie einmal vor einem Regenschauer in eine Kneipe flüchtet, wird sie dort von dem dreißig Jahre jüngeren marokkanischen Gastarbeiter Ali zum Tanzen aufgefordert. Später bringt er sie nach Hause, hört ihr zu, und Emmi lädt ihn auf eine Tasse Kaffee ein. Er bleibt über Nacht. Als Emmi am anderen Morgen Angst vor der unerwarteten Entwicklung verspürt, versucht Ali sie zu beruhigen: "Nix weinen. Nix Angst. Angst essen Seele auf!"
Dieser eine Satz hat die Kraft, viele Geschichten aufzuschließen. Erzählte, vergessene und verschwiegene Geschichten. "Angst essen Seele auf!"
Angstbesetzt
Vor kurzem erschien auch wieder der neue Angstindex - über die Ängste der Deutschen. Meine Zeitung titelte: "Wovor fürchten sich Deutsche am meisten?" Untertitel: "Eine Studie belegt wachsende Ängste in der Republik. Sorge vor Naturkatastrophen größer geworden." Ich weiß zwar nicht, wer alles gefragt wurde - nur Deutsche? -, aber auffällig ist schon, dass es ein Zutrauen gibt, Ängste in einer Tabelle darstellen, womöglich auch entsorgen zu können. Nun mag man über Statistiken denken, was man will: Ängste haben immer ein Gesicht, immer auch eine Vorgeschichte, immer eine eigene Brisanz. Das gehört in die kleinen und großen Geschichten, die Menschen sich erzählen. Im Hausflur, in der Bahn, am Arbeitsplatz. Manchmal zwischen Tür und Angel, manchmal in tiefer Verlassenheit. Die schreckliche Diagnose beim Arzt; die Trennung von einem Menschen, der nicht mehr kann und nicht mehr will; die in bestem Bürokratendeutsch verfasste Kündigung. Das Leben wird quasi über Nacht aus seiner Bahn geworfen. Ali hatte Worte dafür: "Angst essen Seele auf!"
Mut zugesprochen
Von Gott heißt es: ER hat uns den Geist der Furcht nicht gegeben. Das ist auch das Erste, was Timotheus von seinem väterlichen Freund Paulus zu hören bekommt. Ob Timotheus Angst gehabt hat? Wir wissen nicht, was ihn bewegte oder bedrückte. Wir ahnen aber, dass er Mut gut gebrauchen konnte. Ihm wird jedenfalls Mut zugesprochen, sich des Evangeliums nicht zu schämen. Ein Thema bis heute. Schließlich wissen wir zu gut, wie viel Angst es gibt, sich mit den Mächten anzulegen, die die Welt mit Unheil überziehen. Wie viel Angst es gibt, Christ zu sein. Wie viel Angst es gibt, aus Glauben zu leben. Timotheus hört das Evangelium aus dem Mund seines Freundes und Lehrers:
"Er - Christus - hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf,
nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss
und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus
vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist
durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus,
der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat
durch das Evangelium."
Geballte Kraft gegen den Geist der Angst!
Wenn der Tod etwas braucht, um seine Macht zu halten und auszubauen - dann die Angst. Die beiden können nicht ohne einander. Auf Gedeih und Verderb sind sie aneinander gekettet.
Drei gegen einen
Darum muss es Menschen geben, die sagen können, was Gott gegeben hat: Den Geist der Kraft, den Geist der Liebe, den Geist der Besonnenheit. Große Worte zwar, aber dem Geist der Angst ist mit weniger nicht beizukommen. Drei gegen einen!
Der Geist der Kraft ist schöpferisch. Er liebt es, neue Anfänge zu schaffen, Brücken zu bauen, Abgründe zu überqueren. Er lässt sich von verbrauchten Erfahrungen nicht einschüchtern. Dunkle Wolken fürchtet er nicht.
Der Geist der Liebe bewegt Menschen, aufeinander zuzugehen, ihre Geschichten zu hören, Ängste zu teilen. Verschlossene Gesichter öffnen sich. Auf den Zungen wachsen Worte, die sogar die Welt verändern.
Der Geist der Besonnenheit schafft Luft im Streit, verlangsamt die Gedanken, wägt die Optionen ab. Er schärft alle Sinne. Ihm gelingt, nach einer Nacht einen neuen Tag heraufzubringen.
Bei Lichte besehen: In Kraft, Liebe und Besonnenheit ist Gott selbst gegenwärtig. Mit seiner schöpferischen Kraft, seiner den Tod überwindenden Liebe, seinem die ganze Welt erfüllenden und befreienden Geist. - Drei gegen einen!
In die Hand versprochen
Timotheus ist ordiniert, geweiht, das Evangelium weiterzugeben. Er ist ein Glied in einer Kette geworden, die bis zu uns reicht. Dabei hat auch Timotheus Jesus persönlich nicht kennen gelernt. Das verbindet uns mit ihm.
Es ist ein Hörensagen, das ansteckt und ganz viel Hoffnung macht. Von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation. Auf diese Weise kommt Jesu Wort, sein Beispiel, sein Leben, zu uns. Der Geist der Verzagtheit ist nicht von ihm - und behält auch nicht das letzte Wort!
Wir hören die Jünger bitten: "Stärke unseren Glauben!" Und Jesus sagt ihnen: "Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen."
Ein tolles Bild: das winzige Samenkorn - und der bullige, ausladende Maulbeerbaum. Unterschiedlicher könnten sie kaum sein, die beiden.
Ich könnte bei diesem Bild enttäuscht und resigniert reagieren: Geht nicht! Mit meinem Glauben ist nichts los! Ich kann aber auch dieses große Vertrauen wahrnehmen: Selbst ein kleiner, winziger, übersehener Glaube hat eine so große Kraft, dass die Welt nicht bleiben kann wie sie ist. Dass alles, was so fest gefügt zu sein scheint, gar unverrückbar - auf einmal frei wird!
Die großen Bäume können für alles stehen, was übermächtig ist. Sie können für die Angst stehen, die mein ganzes Herz ausfüllt, sie können für die Vorurteile stehen, die sich hinter großer Vergangenheit verstecken, sie können für die Gewalt stehen, die jeden Raum zum Gefängnis macht.
Gott gibt nicht den Geist der Verzagtheit, sondern den der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Das ist in die Hand versprochen!
Ein Cello im Krater
Steven Galloway erzählt in seinem Roman "Der Cellist van Sarajevo" die Geschichte des Ersten Cellisten des Philharmonischen Orchesters von Sarajewo. Schon lange kann er nicht mehr spielen. Das Orchester ist zerstreut, das Gebäude eine Ruine. Als die Granate einschlug, war es ihm, als explodierte die Welt.
Während Sarajewo belagert, eingeschlossen wird, Anfang der neunziger Jahre, sieht er dann aus seinem Fenster, wie eine Mörsergranate 22 Menschen tötet, die vor der Bäckerei, unterhalb seiner Wohnung, in einer Schlange stehen - endlich gibt es wieder einmal Brot. Mutig, aber auch irrsinnig, ist seine Entscheidung: Jeden Tag um 16 Uhr zieht er seinen Frack an, setzt sich mit seinem Cello auf die verwundete Stelle und spielt das Adagio g-Moll von Tomaso Albinoni. 22 Tage lang. "Der Krieg rundum", heißt es im Roman, "wird weitergehen, während er in dem kleinen Krater sitzt, den die Mörsergranate beim Aufschlag gerissen hat... Tag für Tag, einen für jeden Getöteten. Er wird es zumindest versuchen. Er ist sich nicht sicher, ob er überleben wird. Er ist sich nicht sicher, ob er genügend Adagios übrig hat." Mit seinem Spiel verzaubert er aber für einen Augenblick Menschen, die kurz davor stehen, den Glauben an das Menschliche zu verlieren. Die nicht einmal mehr Angst haben dürfen. Die gejagt werden - und die jagen. Die Hass säen - und Hass ernten.
Am Schluss des Romans sehen wir den Cellisten den Bogen auf den Blumenhaufen legen, "der seit dem Tag, an dem die Granate einschlug, ständig größer geworden war ... Niemand auf der Straße rührte sich. Alle hielten den Atem an und warteten darauf, dass er etwas sagte. Aber der Cellist blieb stumm."
Wir ahnen aber: Die Angst isst die Seele nicht!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.