Lesung aus dem Buch Daniel.
Ich, Daniel, sah in einer nächtlichen Vision:
Throne wurden aufgestellt
und ein Hochbetagter nahm Platz.
Sein Gewand war weiß wie Schnee,
sein Haar wie reine Wolle.
Feuerflammen waren sein Thron
und dessen Räder waren loderndes Feuer.
Ein Strom von Feuer ging von ihm aus.
Tausendmal Tausende dienten ihm,
zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.
Das Gericht nahm Platz
und es wurden Bücher aufgeschlagen.
Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen:
Da kam mit den Wolken des Himmels
einer wie ein Menschensohn.
Er gelangte bis zu dem Hochbetagten
und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben.
Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm.
Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft.
Sein Reich geht niemals unter.
(Lektionar 2018 ff. © 2024 staeko.net)
In Dan. 7 wird ein prophetisches Traumbild überliefert. Daniel sieht in den Himmel. Er nimmt die Bewegung wahr: Throne werden aufgestellt, ein „Alter“ nimmt Platz und eine nicht mehr überschaubare Menge ist auf ihn gerichtet. Es ist eine Gerichtsszene. Besonders auffällig ist die Beschreibung des „Alten“: er ist rein, geläutert und verzehrend zugleich. Vor dem Feuer können die Mächte, die Geschichte machen, nicht bestehen. Die Macht wird den Herrschern der Welt genommen und dem „Menschensohn“ übergeben, der – so VV 13-14 – mit den Wolken des Himmels kommt. Ihm werden Herrschaft, Würde und Königstum gegeben, alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Die entscheidenden Worte, die einander bedingen, sind: „Ihm“ (allein) und „alle“. Es gibt keine Sonder-, Parallel- oder Ausnahmewelten.
Durch die Auslegung der Evangelien ist im „Menschensohn“ menschliche Niedrigkeit und göttliche Hoheit verbunden, er gehört zur menschlichen und göttlichen Sphäre gleichermaßen, ist von Gott jedoch unterschieden.
In dem doxologischen Schluss des Herrengebetes „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ wird die himmlische Szene auf Gott hin, der als Vater angerufen wird, durchsichtig.
Wirkungsgeschichtlich ist zu bedenken, dass die – apokalyptische – Sicht des Daniel das Gottesbild nachhaltig geprägt hat: der alte Mann über den Wolken geistert nicht nur durch manche Kindervorstellung. Was die Lesung jedoch sehr deutlich macht, ist, dass hier ein Richter Platz nimmt, der rein ist. Der Blick auf den „Alten“ legt auch offen, dass er die Reiche kommen und gehen sah: Jetzt geht es nicht mehr weiter. Ein Strom von Feuer geht von ihm aus!
Inhaltlich gehört Dan. 7 eng mit Dan. 2 zusammen. Daniel fasst die „ganze“ Weltgeschichte in vier Reichen zusammen, die aufeinander folgen. Aber nicht der historische Ablauf, sondern die Gegenüberstellung zum Reich Gottes weist die Weltgeschichte als dämonisch aus. In seinem prophetischen Traumbild wird das „Ende der Geschichte“ antizipiert.
Die überaus dichte Bilderwelt, mit der Daniel seine Vision zu beschreiben versucht, spricht unmittelbar an – und lässt neue Bilder entstehen.
Im Kreis der Propheten ist Daniel der Apokalyptiker: Er enthüllt die Zukunft, verbirgt sie aber gleichzeitig. Für Berechnungen gibt er keine Anhaltspunkte. Aber seine Botschaft öffnet historische und biographische Situationen. Daniel sieht den Auftakt eines großes Prozesses. Angeklagt sind die Weltreiche. Für das kleine gedemütigte Israel, ein Schatten seiner selbst, sieht Daniel in einem himmlischen Panorama die dämonischen Mächte, die sich in der Weltgeschichte manifestieren, abgeurteilt und überwunden.
Der Richter, der schon das letzte Wort bei der Schöpfung hatte (und als „Hochbetagter“ erscheint), ist rein. Sein fahrbarer Thron ist Feuer. Dieses Motiv findet sich auch in altorientalische Darstellungen: Gott ist unnahbar rein. Von den Urgewalten ist es besonders das Feuer, das ihn begleitet. Er/es verzehrt alles.
Daniel sieht in einer „nächtlichen Vision“ eine Gestalt, die sich jeder Beschreibung und Festlegung entzieht: „einer wie ein Menschensohn“. Er kommt mit den Wolken. Ihm wird die Macht über alle Völker, Nationen und Sprachen gegeben. Sein Reich ist ewig. Versuchen, dieser Gestalt ein Gesicht und einen Namen zu geben, hat Daniel keine Chance eingeräumt. Die Formulierungen aber finden sich, immer wieder neu variiert, im neutestamentlichen Christusbild. Nur Jesus erscheint dort als Menschensohn, der viel leiden muss – der Christushymnus in Phil. 2:5-11 bringt größte Erniedrigung und höchste Macht zusammen.
Die Apokalypse des Johannes, am Ende des neutestamentlichen Kanons, tritt in das Erbe Daniels ein. Zentral ist bei Johannes das Lamm, das würdig ist, Herrschaft, Ruhm und Herrlichkeit zu übernehmen. Die Erlösten bekommen weiße Gewänder – und haben so Anteil an Gottes Reinheit und Klarheit.
Dieser Text stellt uns das „Herzstück" des Buches Daniel vor. Der Prophet stellt die Weltgeschichte dem Reich Gottes gegenüber. Der „Hochbetagte" als Vorsitzender des Gerichtshofes ist niemand anderer als Gott selbst. Das Alter und das weiße Gewand, wie es auch die Priester trugen, machen feierlich und ehrwürdig. Licht und Feuer begleiten die Gotteserscheinung. Die Verhandlung wird nicht beschrieben, sondern nur die Eröffnung.
Der „Menschensohn", der mit den Wolken des Himmels kommt, ist gemäß der Erklärung des Engels (Dan 7,18) Sinnbild für die Gesamtheit der „Heiligen des Höchsten", also ein Bild für das Kollektiv aller Auserwählten.
Andererseits kündet er aber auch den „Menschensohn" der Verkündigung der Evangelien an, „der mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen wird" (Mk 13:26). Der damit verknüpfte Gedanke der Weltherrschaft ist messianisch. Der „Menschensohn" wird im Mund Jesu zur Bezeichnung des göttlichen Messias, der seinem Wesen nach nicht irdischer Natur ist.
Manfred Wussow (2006)
Manfred Wussow (2004)
Lopez Weißmann (2000)