"Ich aber sage euch!"
Haben Sie schon gehört? Stimme abgesenkt, verschwörerischer Blick, die Hand schützend um den Mund gelegt... Was, flüsternd, neugierig, was? Aber das Ritual kippt... Es kommt kein Geheimnis, klein Klatsch. Ihr habt gehört: du sollst nicht töten. Du sollst nicht die Ehe brechen. Du sollst keinen Meineid schwören. Das sind doch die Gebote, denke ich. Wenigstens drei von ihnen. Jesus zitiert sie. Jesus zitiert sie wohl stellvertretend für alle – zehn Gebote. Warum nur sagt er: ihr habt gehört? Nur gehört?
Die Fachleute haben für diese Art Argumentation das Wort „Antithesen“ eingeführt. Dem – eigentlich – Vertrauten, womöglich Selbstverständlichem, wird eine größere, weitere, ja, auch strengere Ausrichtung gegeben. So hört sich das auch an, was Jesus sagt. Ich aber sage euch! Einen Diskussionsspielraum finden wir nicht.
Schon der böse Gedanke, das schlechte Reden, das Schimpfwort werden als Todesstoß sichtbar.
Ein Ehebruch beginnt schon mit einem lüsternen Blick und in der sexuellen Phantasie. Und wenn unsere Worte, unsere Reden nicht wahr und verlässlich sind – dann kommt es einem Meineid gleich.
Wir hören Autorität heraus, wir ahnen, dass wir noch nicht alles gehört, noch nicht alles verstanden haben. Aber strenger ist das alles eigentlich nicht, nur tiefer, verdichteter. Auf den Punkt gebracht:
Wir entdecken neue Seiten. Was wir alles gehört haben! Was wir alles wissen! Nur: nicht alles! Es fehlt etwas, es fehlt uns etwas, wenn wir – und jetzt fällt das Zauberwort – nicht aus der Liebe leben, die uns geschenkt ist.
Die Tiefen Gottes ergründen
In der Lesung – aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther - haben wir gehört:
"Wir verkündigen Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht Weisheit dieser Welt oder der Machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkündigen wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Denn uns hat es Gott enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes."
Wer die Tiefen Gottes sehen will, wird seine Liebe entdecken – und sich dann auch.
So neu und überraschend ist dann auch nicht, was Jesus sagt. Schon die Propheten haben den Blick auf die Herzen von Menschen gewagt. Es genügt nicht, die Gebote Gottes formal zu halten – sie sind Ausdruck inniger Beziehungen zwischen Gott und den Menschen. Es reicht nicht, wenn Menschen einander nicht töten – sie dürfen auch dem Hass und der Rache keinen Raum geben. Es reicht nicht, wenn Menschen ihre Ehe äußerlich aufrecht erhalten – sie dürfen sich auch in Gedanken nicht voneinander entfernen. Es reicht nicht, wenn Menschen den Meineid nicht zu ihren Zwecken einsetzen – sie sollen in allem, was sie sagen, treu und verlässlich sein. Ist das die Vollkommenheit, nach der ich mich auch sehne?
Nobody’s Perfect
Jessie J, eigentlich Jessica Ellen Cornish, eine britische Popmusikerin, 1988 geboren, singt ihren Song Nobody’s Perfect. Sehr rhythmisch, immer wieder neu ansetzend.
„Und ich hasse, dass ich dich im Glauben gelassen habe
Dass das Vertrauen , welches wir hatten, gebrochen ist
Sag mir nicht, du kannst mir nicht vergeben
Denn niemand ist perfekt
Nein, nein, nein, nein, nein ,nein, nein, niemand ist perfekt
Erzähl mir nicht, erzähl nicht
Erzähl mir nicht, du kannst mir nicht vergeben
Nein, nein, nein, nein
Denn niemand ist perfekt, nein“
Merkwürdig: ich verstehe sie auf Anhieb. Niemand ist perfekt. Ich auch nicht. Jessi J singt ein Lied – eine Bitte um Vergebung. Sie beklagt etwas, sich wirft sich etwas vor. Was? Ich höre es heraus, es steht zwischen den Zeilen: zerbrochenes Vertrauen, schuldhaft zerbrochenes Vertrauen. Dazu lassen sich viele Geschichten erzählen, viele Lieder singen. Zerbrochenes Vertrauen liegt überall herum. In den Ecken, auf den Wegen, unter den Tischen.
Der Song von Jessi J nimmt – wohl unbewusst – Maß an der Vollkommenheit, die Jesus in Worte fasst. Ich möchte doch auch darüber reden, warum so oft schlechte Gedanken in mir ihr Unwesen treiben. Warum ich in meinen Phantasien ein anderer sein möchte als der ich gerade bin. Warum ich mit meinen Worten spiele.
Ich höre die Gebote, ich höre, was Jesus sagt. Ich verstehe auch die Stoßrichtung, ich schaue auf mein Leben, ich halte den Blick aus, der auf mein Herz fällt.
Jessi J’s „Erzähl mir nicht, du kannst mir nicht vergeben“ wird zu einem Gebet.
Größere Gerechtigkeit
Die sogenannten Antithesen „ihr habt gehört – ich aber sage euch“ werden von Jesus in seiner Bergpredigt formuliert. Die Bergpredigt kommt einer Antrittsrede oder einer Regierungserklärung nahe. Jesus legt sein Programm vor. Oder anders gesagt: er lässt uns in das Herz Gottes schauen.
Nehmen wir diesen Blick auf, hören wir nicht nur den Anspruch Jesu. Wir bekommen Liebe geschenkt. Was er sagt, hat er im Leben vieler Menschen möglich gemacht. Das sind dann die Zeichen und Wunder, von denen schon die Zeitgenossen geschwärmt haben:
Jesus sagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Der beim Ehebruch ertappten Frau schenkt er einen neuen Anfang, ohne Steinigung.
Und er sagt uns seine unverbrüchliche Treue und Nähe zu.
Sein Wort trägt uns im Leben und im Sterben!
Jetzt machen wir uns auf den Weg. Wir suchen die größere Gerechtigkeit.
Öffne mir die Augen
für das Wunderbare an deiner Weisung!
Herr, weise mir den Weg deiner Gesetze!
Ich will ihn einhalten bis ans Ende.
Gib mir Einsicht, damit ich deiner Weisung folge
und mich an sie halte aus ganzem Herzen.
(Ps 119)
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.