Nein, schon mancher stand schon vor meiner Tür, schneite unangemeldet einfach herein, ließ sich auch nicht wegschicken, aber ein - Engel? Ob ich mir das aber wünsche? Ich bewundere Maria. Ein junges Mädchen, vom Leben weder verwöhnt noch verwundet, wird einfach - heimgesucht.
Heimgesucht! Das Wort ist ebenso schön wie verräterisch. Da kommt das Heim vor, traut, vertraut, eben: ein, mein Zuhause. Aber auch das fast schon verstörende, überraschende, unheimliche einer Begegnung, die das gewöhnliche Leben unter den eigenen vier Wänden fremd werden lässt. Nachher ist nichts mehr wie vorher. Heimsuchungen werden eher gefürchtet als gewünscht, eher vermieden als gesucht. Maria aber sagt: Ja. Dabei weiß sie nicht einmal, was sie sagt - ihr Vertrauen ist grenzenlos, ihr Mut aber auch.
Heute heißt so manche Kirche "Maria Heimsuchung". Klöster sind nach ihrem Erlebnis benannt. Es gibt sogar einen Festtag, der so heißt.
Ein Bild
Und Bilder! Fast alle großen - und auch kleinen - Künstler haben die Begegnung gemalt. Ein Bild habe ich vor Augen. Darf ich es Ihnen kurz mit Worten vor die Augen, vor die Ohren malen?
Es ist ein Altarbild, der linke Flügel des wunderschönen "Dreikönigsaltars" von Rogier van der Weyden. Um 1460 gemalt. Man schaut in ein Jungmädchenzimmer, das säuberlich abgedeckte Bett im Hintergrund. Rot. Als ob hier schon das Leiden seine Spuren andeuten würde. Maria kniet in ihrem tiefblauen Kleid auf einem Betschemel vor der rechten Wand, ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Sie muss sehr vertieft gewesen sein, jetzt aber aufgeschreckt. Sie schaut hinter sich, halbrechts den Kopf gewendet. Noch ganz in sich gekehrt, aber schon mit großen Augen. Ein Engel steht hinter ihr. In glänzendem Weiß gekleidet. Fast mehr Licht als Figur. Seine rechte Hand scheint zu unterstreichen, was er sagt - fein bewegt. Die Worte aber - sie lassen sich nicht mit Pinselstrichen, nicht mit Farben, nicht mit Linien ins Bild bringen. Sie füllen aber den Raum, der spärlich von draußen erhellt wird. Auf den Lichtstrahlen aber sieht man - kaum bemerkbar, wie ein Schatten - eine Taube. Sie stellt den Heiligen Geist, den Geist Gottes, die Gegenwart Gottes dar. War nicht im Evangelium davon die Rede, dass er, der Heilige Geist über Maria käme? Hier sieht man ihn - kommen.
Rogier van der Weyden hat in wenigen Zügen eine sehr bewegende Szene festgehalten: den redenden Engel, die Lichtstrahlen von draußen, die Taube aus der anderen Welt. Aber Maria steht nicht auf. Sie bleibt in ihrer knieenden Haltung. Sie bleibt auch bei ihrem Buch. Im Vordergrund sieht man aber die Lilie, die in ihrer weißen Schönheit zurückhaltend in den Raum hinein wächst - sieht man genauer hin, sieht man, wie sie die Gewänder des Engels und der Maria verbindet. Die Lilie: das Bild einer großen Reinheit, einer Unschuld, einer Unberührtheit. Trotzdem auch das Bild einer großen Nähe. Wir sehen den Himmel in ein kleines Zimmer einbrechen. Wir werden überraschend zu Zeugen gemacht. Denn das Zimmer ist offen.
Rogier van der Weyden hat die Zuschauer, uns, an der "Heimsuchung" beteiligt. Wir stehen unerwartet in einem Zimmer, das nicht das unsere ist. Ich möchte mich wegstehlen, fühle mich wie ein Voyeur, wie ein Eindringling - aber ich komme nicht weg. Die Begegnung zieht mich förmlich an. Ich muss hier bleiben. Gucken, hören, glauben.
Ein aufgeschlagenes Buch
Wenn ich Ihnen das Bild jetzt zeigen könnte, wäre es ein Leichtes, den vielen Einzelheiten nachzugehen, die mal offen, mal versteckt in dieser mit ausdrucksstarken Farben gemalten Szene zu finden sind. So aber müssen wir uns bescheiden. Bleiben wir wenigstens bei dem aufgeschlagenen Buch. Es gehört zur Symbolik dieser Szene. Es steht für die alttestamentlichen Verheißungen, für die Zusagen der Propheten, aber auch für die noch nicht erfüllten Sehnsüchte und Träume der Menschen. In dem aufgeschlagenen Buch ist das verlorene Paradies ebenso zu finden wie das große endzeitliche Mahl, an dem die Völker endlich und ein für alle mal ihre Trennungen, Vorurteile und Ängste ablegen. In dem aufgeschlagenen Buch stehen die Klagelieder der unschuldig Verfolgten, der unheilbaren Kranken und der von allen guten Geistern Verlassenen, aber auch die Lieder der Liebenden, die Poesie der Mutigen und die großen Stücke der Hoffnung. In dem aufgeschlagenen Buch können wir sogar unsere Namen entdecken. Alles sehr klein geschrieben. Denn ein Buch fasst nicht einmal, was ich gerne aufgeschrieben und bewahrt hätte - geschweige denn die Geschichte, die unter dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen begonnen hat.
Aber vor Maria liegt das Buch. Ein kleines Format, fast schon zierlich. Gemacht für Mädchenhände. Aufgeschlagen. Maria war, als sie aufschaute, irgendwo mitten drin. Die Seiten, die jetzt noch durchgeblättert, gelesen und verstanden werden können, haben den Glanz, die Worte, die Zusagen der "Heimsuchung" schon mitbekommen.
Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden.
Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben.
Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben.
Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.
Ein Kind empfangen
Wo doch die Herrschaftsverhältnisse dieser Welt in Beton gegossen scheinen, Gewalt nur neue Gewalt gebiert, Hoffnungen zertreten werden: ER wird herrschen - und seine Herrschaft wird kein Ende haben.
Was alles in diesem Mädchenzimmer laut wird! Es ist nicht zu fassen: Gott hat sich ein junges Mädchen ausgeguckt, der Welt ein neues Gesicht zu geben - und Maria macht mit! Unschuldig, fast selbst noch ein Kind - ein unbeschriebenes Blatt. Die Gelehrten schütteln den Kopf, die Mächtigen reiben sich verwundert die Augen, aber die Leute, die so lange gewartet haben, sehen die Sonne aufgehen. Irgendwann werden auch die Gelehrten bescheiden und die Mächtigen kleinlaut. Gott schaut mit den Augen eines Kindes Menschen an und hat sich in sie verliebt - so weit reichte die Phantasie noch nie.
In dem aufgeschlagenen Buch konnte Maria lesen:
"Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben" (Jes. 7,14)
Empfangen ist ein schönes Wort. Ich bin auch einmal empfangen worden. Ein Geschenk. Jedem Kind geben wir als Geschenk mit, dass es angenommen wird - Gegenleistungen und Verrechnungen gibt es nicht. Nur Liebe. Nur Liebe empfängt. Nur Liebe gibt.
Das macht den Reiz der Geschichte aus, in die Maria unverhofft gerät. Morgens, als sie aus dem Bett krabbelt, weiß sie noch nichts. Aber es wird ihr Tag. Gott liebt die Menschen so sehr, dass er sich empfangen lässt - von einem Mädchen namens Maria.
Wisst ihr, was wir jetzt beiseite lassen? Die großen und schwer verständlichen Worte: Jungfräuliche Empfängnis, Jungfrauengeburt - wer lächeln will, darf das ruhig tun. Denn es ist eine freundliche, liebevolle, zärtliche Geschichte. Die Geschichte von einem Mädchen, das Gott empfängt. Maria. Jung, unerfahren, offen. Eine von uns. Geliebt und liebend. Von Gott geliebt, die Menschen liebend. Wir können die Geschichte gar nicht anders erzählen - als mit den Worten eines Engels. In die Kästchen, die mir die Lebenserfahrung zugeschnitten hat, passt viel zu wenig hinein, um Menschen glücklich zu sehen, um Menschen glücklich zu machen.
Eine selbstbewusste junge Frau
Ich möchte doch noch einmal mit meinen Augen durch das Altarbild von Rogier van der Weyden streifen: eine junge Frau - und ein Buch. Maria liest. Sie macht sich ein eigenes Bild von der Welt, von den Menschen, von Gott. Sie lässt sich nicht für dumm verkaufen. Sie prüft alles. Wort für Wort. Sie fragt auch, wie das alles gehen kann, was ihr zugemutet wird. Sie lässt nicht locker. Lange, bevor Frauen ihre Stärke entdeckten und ihren Platz in der Gesellschaft einforderten, ist Maria selbstbewusst, herausfordernd und kritisch zu vernehmen. Sie nimmt es mit Gott auf, weiß aber keinen anderen Rat als den, sich ihm zu öffnen. Indem sie ihn empfängt, macht sie sich und alle Geschlechter auf Erden glücklich.
Martin Luther hat 1535 ein Marienlied geschrieben. Im Hintergrund steht der große Kampf um das Kind, wie er in der Apokalypse beschrieben wird. Die ganze Welt hat sich gegen das Kind verschworen, böse Mächte trachten danach, es klein zu kriegen. Aber die Gewissheit, dass seine Herrschaft kein Ende haben wird, ist eine einzige und einzigartige Verführung zum Vertrauen:
Sie ist mir lieb, die werte Magd,
Und kann ihr nicht vergessen,
Lob, Ehr und Zucht von ihr man sagt,
Sie hat mein Herz besessen.
Ich bin ihr hold,
Und wenn ich sollt,
Groß Unglück han,
Da liegt nicht an.
Sie will mich des ergetzen
Mit ihrer Lieb und Treu an mir,
Die sie zu mir will setzen
Und tun all mein Begier.
Den Mut und das Vertrauen der Maria wünsche ich Ihnen am 4. Advent. Und sonst auch!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus, unserem Herrn.