Anreize
Manchmal finden sich in Gesetzbüchern Kuriositäten. So heißt es im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch in §1619 folgendermaßen: „Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen ... Dienste zu leisten.“ Es hat seinen Ursprung wohl in einer Zeit, in der Jugendliche schon früh „in die Lehre gingen“, noch zu Hause wohnten und sich dann auch an der Ordnung des häuslichen Zusammenlebens zu beteiligen hatten. Wir leben jetzt in anderen Zeiten, aber es ist bis heute noch gültig.
Ich bin bei einem Gespräch im Kreis junger Eltern auf diese Kuriosität aufmerksam geworden. Fast alle Eltern stöhnten darüber, wie schwer sich der Nachwuchs zu Küchenarbeit, Mithilfe im Garten oder auch nur zum Aufräumen des eigenen Zimmers bewegen lässt. Es gibt tausend Ausreden. Und alles läuft letztlich darauf hinaus: „Ich mache das später!“ Es bedarf schon großer Anreize, damit die Kinder solche Aufgaben sofort erledigen: Ein Kinobesuch. Neue Klamotten kaufen. Oder sogar die Aussicht auf ein neues Smartphone. Nicht wenige der Eltern wünschten sich manchmal, sie könnten mit diesem Paragraphen wenigstens einmal „drohen“! Gott sei Dank, tun sie es dann aber doch nicht.
Wenn wir ehrlich sind, ist das Verhalten der Kinder auch für uns Erwachsene nicht so weit weg. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wir nicht gerne tun. Und sie dann in unsere „to do Liste“ ziemlich weit nach hinten schieben. Und auch für Erwachsene gilt: Je größer die „Belohnung“ desto eher erledigen wir solche ungeliebten Aufgaben.
Sofort
Vielleicht ist es der Hintergrund solcher Erfahrungen der Grund dafür, dass ein Wort in den beiden Berufungserzählungen des heutigen Evangeliums ins Auge springt: „Sofort“! Sowohl Petrus und Andreas als auch die beiden Zebedäus-Brüder lassen sofort alles stehen und liegen und folgen auf der Stelle dem Ruf Jesu.
Das macht nachdenklich. Scheinbar ohne Fragen oder Zweifel lassen sie sich auf etwas ganz Neues und Unbekanntes ein. Ein solches Verhalten ist ungewöhnlich. Normalerweise brauchen wir Menschen Klarheit und Absicherung, bevor wir solche weitreichenden Schritte wagen. Bei den ersten Jüngern war dies anders. Offensichtlich hat Jesus eine Saite zu Schwingen gebracht, die in ihnen „alle Sicherungen durchbrennen lassen“. Sie verlassen ihre Arbeit, ihre Familien und lassen sich auf etwas ganz Neues ein.
Der Text des Evangeliums nennt zwei Gründe für dieses Verhalten: „Denen, die im Schatten des Totenreich leben, ist ein helles Licht erschienen.“ Denn das lang ersehnte „Himmelreich ist nahe“. Und die Verheißung an die neuen Jünger: „Ich werde Euch zu Menschenfischern machen!“
Eine neue Kultur des Lebens
Wenn die Bibel vom »Himmelreich« oder auch »Reich Gottes« spricht, dann meint sie: Dort ist Gott! Dort herrschen seine Gesetze, die Leben ermöglichen. Im Himmelreich schafft Gott so das „Leben in Fülle“!. Das Schatten- oder Totenreich ist das genaue Gegenteil: Dort gelten die Gesetze, die Leben verhindern und zerstören. Das Himmelreich führt zu einer Kultur des Lebens, das Schattenreich zu einer Kultur des Todes.
Jesus steht für diese neue „Kultur des Lebens“. Damit Menschen nicht mehr von Gott getrennt sind, ermöglicht er Vergebung und Versöhnung. Krankheiten und Armut grenzen Menschen nicht mehr aus dem sozialen Miteinander aus. Die Herrschenden und Regierenden füllen nicht ihre eigenen Taschen, sondern dienen der Wohlfahrt aller Menschen. Krieg und Gewalt werden durch die Liebe überwunden. Den Menschen, die bisher im Dunkeln leben, erscheint dieses helle Licht der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe. Diese Kultur des Lebens übt eine eine so gewaltige Faszination auf die ersten Jünger aus, dass sie bereit sind, dafür alles stehen und liegen zu lassen.
Himmelreich
Diese neue Kultur des Lebens beginnt - und das stellt Jesus von Anfang an klar - im konkreten Alltag der Menschen. Sie ist keine billige Vertröstung auf das Jenseits, sondern will schon jetzt anfanghaft erfahrbar und erlebbar sein. Das Evangelium berichtet davon, wie Christus in den Synagogen das Evangelium vom Reich Gottes verkündet. Und damit beginnt, Gottes Gesetzen Geltung zu verschaffen, indem er im Volk alle Krankheiten und Leiden heilt. In seiner Verheißung an die Jünger: „Ich mach Euch zu Menschenfischern!“ ruft Jesus seine Jünger, mit ihm an dieser neuen Art zu leben mitzuarbeiten. Und es soll Kreise ziehen: Seine Jünger werden andere Menschen für das Reich Gottes begeistern und sie lehren, nach seinen Gesetzen des Lebens zu leben, indem sie selbst solche Zeichen des neuen Lebens setzen: Dämonen austreiben, Kranke heilen und den Armen die Frohe Botschaft verkünden.
Schon aus dem Zusammenleben in unseren Familien wissen wir aber, dass Gesetze allein - wie z.B. im Bürgerlichen Gesetzbuch - ein gelingendes Zusammenleben nicht schaffen können. Dazu bedarf es des gemeinsamen Willens, der seinen tiefsten Grund in der gegenseitigen Zuneigung und Liebe hat.
Nach so vielen Jahren, die uns dieses Evangelium schon vertraut ist, brennen wahrscheinlich beim Zuhören nicht sofort alle „Sicherungen durch“! Vielleicht finden wir aber einen neuen Zugang zur Botschaft des Herrn in seiner Aufforderung die heutige Kultur des Todes, unter der viele von uns und viele unserer Mitmenschen leiden, neu in den Blick zu nehmen. Natürlich sind manche im Laufe der Jahre müde geworden. Haben nicht nur ihre Illusionen, sondern auch ihre Hoffnung verloren, weil sich scheinbar doch nur so wenig ändern lässt. Jetzt am Altar feiern wir den Sieg Christi über das Scheitern und die Hoffnungslosigkeit des Todes. Er lebt und ist als Auferstandener mitten unter uns. Der Tod hat eben nicht das letzte Wort. Bitten wir ihn um die Erneuerung unserer Liebe, damit wir uns auch weiterhin mit Kraft und Hoffnung dem Leid und dem Unrecht, dem Menschen ausgesetzt sind, entgegen stemmen können und so Menschenfischer sein können, die die Botschaft vom kommenden Himmelreich den Menschen unserer Zeit bezeugen.