Juden und Nichtjuden
Lukas, der uns das heutige Evangelium überliefert hat, lebte in der Zeit, da allerorts in der jungen Kirche die Frage im Raum stand: Müssen die Heiden sich erst beschneiden lassen, um Christen werden zu können? Diese Frage hat damals in der Kirche viel Unruhe gestiftet. Auch wenn dann im ersten Apostelkonzil die Frage zugunsten der Heiden entschieden wurde, war damit nicht schlagartig der Friede gesichert und rundum volle Harmonie hergestellt. Als Seelsorger war Lukas daher sehr bemüht, ein friedvolles Zusammenleben unter den Heiden- und Judenchristen aufzubauen oder es zu verstärken. Im heutigen Evangelium können wir dies deutlich spüren.
Es ist sicher kein Zufall, dass der Evangelist für seinen Bericht über das Wirken Jesu unter anderem eine Situation auswählt, in der hervorgehoben wird, dass Heiden und Juden sehr wohl ein gutes Verhältnis zueinander pflegen konnten. Der im Bericht erwähnte Hauptmann war den Juden behilflich gewesen beim Bau oder einer Restaurierung ihrer Synagoge. Seine Bitte an Jesus überbringt nicht, was ja nahe gelegen hätte, einer seiner Diener, sondern gläubige Juden, die obendrein bei Jesus "inständig" bittende Fürsprache für den Hauptmann einlegen. Dies wird nicht unbedacht von Lukas betont. Der Evangelist möchte zeigen, dass es auch sehr positive Beispiele für das Zusammenleben von Juden und Heiden gab.
Lukas hat ganz sicher die Judenchristen im Blick, wenn er den Hauptmann ausführlich als einen Menschen beschreibt, den man liebhaben und wertschätzen muss. Hinzu kommt sein einmaliger Glaube, der wohl auch den meisten Judenchristen als Beispiel dienen kann. Dass es so etwas gibt wie diesen Heiden, mit seinem Glauben, ist für die jüdisch geprägten Christen wahrscheinlich das eigentliche Wunder der Erzählung. Und Lukas bestärkt ihre Verwunderung, indem er berichtet, wie sehr selbst Jesus dieser Glaube in Verwunderung und Entzücken versetzt hat.
Ein Heide als Beispiel des Glaubens
Sich den Heidenchristen zuwendend möchte Lukas diesen den Hauptmann als Vorbild des Glaubens vor Augen stellen. Sein Glaube, sein absolutes Vertrauen in Jesus soll auch ihren Glauben bestimmen und auszeichnen.
Beiden, Juden- wie Heidenchristen, will Lukas versichern: Das Heil Jesu erhalten alle, die an ihn glauben und ihm vertrauen, unabhängig davon ob sie Heiden oder Beschnittene sind, zu den Kleinen oder Sündern zählen, den Zöllnerberuf ausüben oder der Besatzungsmacht angehören.
Das ist das eigentliche Wunder, das Jesu immer wieder wirkt: das Verschenken seiner unbegrenzten Liebe an alle. Die erwähnte Krankenheilung ist für Jesus nichts Besonderes. Sie dient im Grunde nur der Bestätigung seiner Größe und Machtfülle und ist eine Hilfe für die, die noch auf der Suche sind nach dem Wesen Jesu. Das Wunder schlechthin, das Jesus immer wieder wirkt, ist seine Liebe, in die er alle Menschen einschließt.
Der Hauptmann ist ein Glückspilz. Sein Vertrauen in Jesus wird belohnt, wie er es sich wünscht. Wie schön wäre es, wenn auch unsere Bitten an Gott so schnell und unkompliziert Erfüllung fänden.
Unerhörtes Beten
Sicher haben auch wir uns des öfteren schon von Gott erhört gefühlt. Aber wir haben zuweilen auch das Gefühl, dass unsere Bitten und Gebete unerhört blieben. Manche Bitten mögen unberechtigt gewesen sein - aber doch nicht alle! Hier stehen wir vor einem Problem, das sich mit menschlichen Gedanken nicht lösen oder begründen lässt.
Ganz sicher stimmt, dass wir durch manches Leid, das wir mit Gottes Hilfe durchgestanden haben, innerlich gewachsen sind. Wir wurden feinfühliger, einfühlsamer, vorsichtiger im Urteil, wacher für Menschen mit ihren Nöten um uns her. Wir wurden vorbereitet auf Herausforderungen, die später auf uns zukamen und die wir dann bewältigen konnten. Das alles stimmt. Und dennoch bleibt für manche Situationen die Frage: Warum hilft mir Gott nicht deutlicher oder mehr, obwohl ich ihn voll Vertrauen und inständig angefleht habe? Eine letzte, befriedigende Antwort werden wir auf diese Frage nicht finden.
Ein Blick auf den Hauptmann kann uns vielleicht helfen, diese Situationen zu ertragen und ohne Verbitterung durchzustehen. Neben dem Vertrauen, das der Hauptmann in Jesus setzt, zeichnet ihn aus, dass er ein tiefes Gespür für die Erhabenheit Jesu und seine souveräne Freiheit des Handelns besitzt. Ich bin nicht würdig, dass du mein Haus betrittst, lässt er Jesus sagen. Hinter diesen Worten steckt die Überzeugung: Ich kann dich, Jesus, bitten; aber ich habe kein Anrecht auf deine Hilfe. Wenn du mir hilfst - ich glaube fest daran, dass du es vermagst - dann ist dies ein unverdientes, großzügiges Geschenk an mich deinerseits. Dafür kann ich und werde ich dir danken. Aber ich bleibe mir bewusst: ein Anrecht auf deine Hilfe habe ich nicht.
Wo wir uns diese Einstellung Gott gegenüber aneignen, vielleicht müssen wir sie uns öfter sogar einmal regelrecht abringen, werden wir fähiger, uns vor Bitterkeit in den Situationen zu bewahren, wo wir uns nicht erhört fühlen.
Gott gibt, auch wenn wir ihn nicht darum bitten
Tausend Dinge gewährt uns Gott Tag für Tag neu, sogar ohne dass wir ihn darum bitten. Aus dieser Erfahrung dankbar das Vertrauen in Gott und seine Hilfe nicht aufgeben, sollte uns auszeichnen. Gott bleibt auch dann, wenn wir ihn nicht verstehen, unser Helfer und Beistand, dem wir nicht genug danken können.
Vielleicht wird das das große und eigentliche Wunder Gottes an uns, dass er uns die Kraft schenkt, trotz mancher Enttäuschungen und bleibenden Fragezeichen nicht von ihm abzulassen. Dies wünsche ich ihnen und mir.
Gastautor*in (2016)