Lesung aus dem Buch Deuteronómium.
Mose sprach zum Volk:
Israel, hör auf die Gesetze und Rechtsentscheide,
die ich euch zu halten lehre!
Hört und ihr werdet leben,
ihr werdet in das Land,
das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt,
hineinziehen und es in Besitz nehmen.
Ihr sollt dem Wortlaut dessen,
worauf ich euch verpflichte,
nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen;
ihr sollt die Gebote des Herrn, eures Gottes, bewahren,
auf die ich euch verpflichte.
Ihr sollt sie bewahren und sollt sie halten.
Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung
in den Augen der Völker.
Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen,
müssen sie sagen: In der Tat,
diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk.
Denn welche große Nation hätte Götter,
die ihr so nah sind, wie der Herr, unser Gott, uns nah ist,
wo immer wir ihn anrufen?
Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsentscheide,
die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung,
die ich euch heute vorlege?
(Lektionar 2018 ff. © 2024 staeko.net)
Im Buch Deuteronomium wird beschrieben, wie sich das Volk in seine Berufung hineinfindet. Dazu dienen die Ermahnungen des Mos, aus denen die heutige Lesung stammt
Das große Ganze wird betont. Es kann nur seine Kraft zeigen, wenn die einzelnen Teile beachtet werden.
Gott wird als der mitgehende und vielfach erfahrbare Gott beschrieben. Dies ist so stark, dass es missionarisch wirken kann und Jahwe den Vorteil im Ranking der Götter geben soll.
Das Buch Deuteronomium besteht hauptsächlich aus einer großen Rede des Mose. In seinen Mund legen die Autoren des Deuteronomiums einen großartigen gesellschaftlichen Entwurf, einen kühnen Reformversuch, durch den das Königreich Juda an seinen Ursprung durch Jahwe erinnert und dadurch vor seinem drohenden Untergang gerettet werden sollte.
Zentrales Anliegen des Deuteronomiums ist es, durch Gesetze und ethische Richtlinien den Rahmen für eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder - auch die sozial Unterprivilegierten wie Arme, Waisen, Witwen, Sklaven und Fremde - die Freiheit erfahren können, die Jahwe Israel bei der Errettung aus dem Schilfmeer schenkte. Niemand soll so tief unter die Armutsgrenze fallen, dass er davon auf Dauer ausgeschlossen ist.
So schreibt das Gesetz vor, dass jeder, der sich aus Not selber als Sklave verkauft hat, im siebten Jahr freigelassen werden muß. Dabei muß ihm sein Herr soviel mitgeben, dass der Freigelassene genug für einen neuen Anfang in Freiheit hat (Dtn 15,12-18). Auch Schulden müssen jedes siebte Jahr erlassen werden, und es wird extra eingeschärft, selbst kurz vor dem siebten Jahr noch großzügig zu leihen, obwohl der Gläubiger dann kaum noch Chancen hat, das Geliehene zurück gezahlt zu bekommen (Dtn 15,7-11).
Deutlich liegt der Akzent des Gesetzeswerks auf dem Schutz der Schwachen: Asylsuchenden ist Schutz zu gewähren; sie dürfen nicht ausgebeutet werden (Dtn 23:16-17). Es wird verboten, das Recht von Fremden, Waisen und Witwen zu beugen - eine Gefahr, die immer bestand, weil diese Gruppen keine einflußreichen Angehörigen hatten, die die Richter einschüchtern oder bestechen konnten (Dtn 24,17-18). Mehrfach wird betont, dass am Sabbat Sklave und Sklavin ihre Arbeit genauso ruhen lassen sollen wie ihr Herr (Dtn 5,14-15) - eine Regelung, die im ganzen Alten Orient einzigartig sein dürfte. Vor diesem Gesetz ist sogar der König nur ein Untertan wie jeder andere. Er darf sein Herz nicht über seine Brüder erheben und sein Volk nicht versklaven (Dtn 17,14-20).
Das alles sollte man beim Lesen unserer Perikope nicht vergessen. Es macht den eindringlichen, werbenden Ton verständlich, in welchem eingeschärft wird, dem Gesetz ja "nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen". Ein solches Gesetz tut nämlich gerade denen weh, die im Land das Sagen haben. Sie sind es, die um des Gemeinwohls willen auf die Durchsetzung ihrer Privatinteressen verzichten sollen. Damals wie heute ein kühnes Ansinnen! Was könnte ihnen die geforderte Selbstlosigkeit "schmackhaft" machen?
Vordergründig die Achtung der anderen Völker vor der Kultur und Bildung Israels (das im Alten Orient dafür wahrlich nicht berühmt war). Aber es geht noch tiefer: Dieses Gesetz ist notwendig zum "Leben", wie es eingangs in der Perikope heißt. Es ist ein Zeichen für die unglaubliche Nähe des lebensspendenden Gottes Jahwes. Und dieser Gott ist nur dort gegenwärtig erfahrbar, wo Gerechtigkeit gelebt wird. Hier wird also keine sklavische Gesetzesfrömmigkeit eingeschärft, sondern es wird an die Mächtigen appelliert, sich einem Gesetz zu unterwerfen, das den Armen und Rechtlosen neuen Lebensraum gibt – also im Wortsinn eine neue "frohe Botschaft" ist.
Die alttestamentliche Lesung des 22. Sonntags im Jahreskreis entstammt dem Buch Deuteronomium, das zwar in der Bibel eines der fünf Bücher Mose ist, im wesentlichen aber erst in mehreren Stufen vor, in und nach dem babylonischen Exil (586 - 538 v. Chr.) entstand. Unser Text, eine Mose in den Mund gelegte Rede, verdankt sich der späten Exilszeit. Durch einen Rückblick auf die Geschichte bzw. einen erneuerten Blick auf das Gesetz Gottes die aktuelle, krisenhafte Situation meistern - so könnte man sein Anliegen anfanghaft charakterisieren.
Die Perikope bildet im Buch Deuteronomium die große Überleitung zwischen dem historischen Rückblick (Kapitel 1 - 3) und dem Gesetz (Kapitel 5 - 28) und ist damit gewissermaßen eine Ouvertüre bzw. eine Interpretationshilfe für alles Folgende. Israel soll die Gesetze und Rechtsvorschriften halten, weil sie von Gott stammen und sie letztlich Medium der Gottesnähe sind. So findet es seine unvergleichliche Identität im Reigen der Großmächte. Israel wird durch sein Gesetz und die darin geborgene Gesellschafts- und Sozialordnung gewissermaßen eine "Alternativ-" oder "Kontrastgesellschaft" zu den übrigen Völkern.
Norbert Riebartsch (2015)
Antonia Keßelring (2003)
Martin Leitgöb (1997)