Gelähmt sein
Da wird ein Gelähmter an Leib und Seele gesund. - Was uns selber häufig lähmt, das verrät unsere Sprache: man spricht z. B. von "lähmender Angst". Sie kennen das sicher aus Situationen wie diesen: man soll vor einer Gruppe sprechen und kann vor Aufregung keinen klaren Gedanken mehr fassen. Oder: in einer gefährlichen Situation ist man vor Schock wie gelähmt und unfähig zu handeln. Aber auch das Warten auf ein wichtiges Untersuchungsergebnis kann einen in lähmende Angst vor einer schlechten Diagnose versetzen.
Manchmal besetzt die Angst aber auch größere Bereiche des Lebens. Da fürchtet sich einer ständig vor dem, was andere über ihn denken. Eine andere hat große Angst vor der ungewissen Zukunft oder vor dem Alleingelassenwerden. Mancher ängstigt sich davor, Fehler zu machen und traut sich schließlich gar nichts mehr zu. Andere haben sehr hohe Ansprüche an sich selbst und erlauben sich keine Schwäche. So verausgaben sie sich in Beruf oder Familie bis über ihre Grenzen hinaus - bis zum völligen Ausgebrannt-Sein.
Solche Ängste und zu hohen Ansprüche engen das Leben eines Menschen ein, lähmen ihn - und können ihn auch körperlich krank machen.
An heilsame Orte gelangen
Dem Gelähmten, der zu Jesus gebracht wird, ging es vielleicht ähnlich. Aber er hat vier Männer, die sich mit ihm verbunden und solidarisch zeigen. Solche mutigen Menschen brauchen wir auch heute: Menschen, die sich mit Krankheit und Hilflosigkeit konfrontieren, obwohl oft Gesundheit, Fitness und Junggebliebensein als Ideale gelten.
Nicht nur andere Menschen machen heilende Begegnungen möglich. Auch die eigenen inneren Lebenskräfte eines Kranken tragen ihn: seine Sehnsucht nach mehr Lebendigkeit, seine Hoffnung - und sei es nur ein winziger Funken Hoffnung.
Das Evangelium erzählt weiter, wie die Männer das Dach abdecken, um den Gelähmten nah zu Jesus zu bringen. Das war damals leicht möglich: Das Dach einer Wohnhütte bestand nämlich aus Holzbalken, über die Schilf gelegt war. Das Ganze war mit festgetretenem Lehm zugedeckt. Oft führte von außen eine Treppe nach oben. Diese Vorteile erkennen und nutzen die Männer also. Statt sich mühsam durch die Menschenmenge zu kämpfen, finden sie eine ganz unerwartete Lösung. Diese kreative Weise, Hindernisse zu überwinden, findet Anerkennung bei Jesus. Er sieht ihren Glauben, nämlich ihr Vertrauen auf ungeahnte Möglichkeiten.
Von Lähmendem freigesprochen werden
Jetzt erwarten alle die Heilung des Gelähmten. Aber Jesus reagiert völlig überraschend: Er sagt dem Kranken die Vergebung seiner Sünden zu. Damit zeigt er, dass die eigentliche Not des Kranken tiefer liegt.
Der griechische Ausdruck für "Sünde", der an dieser Stelle im Text steht, bedeutet nämlich folgendes: "das Verfehlen eines Zieles". Dabei geht es um mehr als einzelne Verfehlungen. Vielmehr geht es um die Gefahr, das gottgewollte Ziel seines Lebens zu verfehlen. Für jeden Menschen will Gott, dass er erfülltes Leben erfährt - in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zu Gott. Wer aber nicht versucht, sein Leben immer wieder neu auf die Liebe zu sich und anderen und auf Gott auszurichten, der verfehlt letztlich diese Erfüllung seines Lebens. Wenn jemand so an seinem Leben, an Sinn und Glück vorbei lebt, dann kann er auch körperlich daran leiden.
Genau das erkennt Jesus hier bei dem Gelähmten. Damit ist seine Vorstellung nicht so weit entfernt von der heutigen ganzheitlichen Sicht von Krankheit. Denn auch Jesus betont hier den engen Zusammenhang von seelischem und körperlichem Heil. Als Jesus dem Gelähmten die Sündenvergebung zuspricht, erfährt dieser: "Gott wendet sich mir bedingungslos zu! Er will gelingendes Leben für mich." Hier wird der Mensch freigesprochen von dem, was ihn an erfülltem Leben hindert. Frei von lähmender Zukunftsangst, frei von Perfektionismus, frei von überhöhten Ansprüchen an sich selbst und das Leben.
Das bedeutet nicht "fehlerfrei", sondern: versöhnt - gerade mit den persönlichen Schwächen und Grenzen. Versöhnt sein - das setzt einen Heilungsprozess an Seele und Körper in Gang.
Aufstehen und gehen
Dann fordert Jesus den Gelähmten auf: "Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Bahre und geh!" Das ist ja eigentlich eine Zumutung. Aber was Jesus diesem Menschen zumutet, das traut er ihm auch zu. Und das spürt der Kranke und gewinnt wieder Vertrauen in seine eigenen Kräfte. Er kann tatsächlich seine lähmende Angst vor einem selbständigen Leben mit seinen Schwächen überwinden. So kann er nun auf eigenen Füßen stehen und erste Schritte auf seinem Weg gehen.
Das wird auch uns zugemutet und zugetraut - weil wir gewiss sein dürfen, bedingungslos von Gott geleibt zu sein.
Die Aufforderung zum Gehen können wir auch für uns heute ganz wörtlich verstehen: Wenn nichts mehr zu gehen scheint, hilft es manchmal zu gehen: im wörtlichen Sinn, also spazieren, laufen, wandern... Durch die körperliche Bewegung kommt dann auch Inneres wieder in Gang - und es geht weiter, Schritt für Schritt.
Ein seltenes Wunder?
Und das wird auch bei dem Gelähmten im Evangelium wahr: "Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging ... weg." Manch einer denkt vielleicht: Das klingt ja wunderbar - aber was ist mit denen, die nicht mehr gesund werden?
Ich denke, es geht nicht um "Hauptsache gesund", sondern darum, Menschen auch im Rahmen sehr eingeschränkter Möglichkeiten noch ein wenig mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Dazu braucht es Menschen ohne Berührungsängste mit Schwerkranken. Und es Fantasie und Mut, auch Ungewöhnliches auszuprobieren - genauso, wie im Evangelium die Männer eine kreative Lösung finden, um den Kranken zu Jesus zu bringen. Und manchmal genügt es, einfach mit dem Leidenden da zu sein. Allein das lässt ihn wohltuende Nähe - und darin auch die Nähe Gottes spüren.
Und umgekehrt gilt: Auch die Gesunden, die sich einem Schwerkranken zuwenden, werden oft durch diese Begegnung bereichert. Sie können vom Kranken und Schwachen lernen, sich von den eigenen Schwächen nicht lähmen zu lassen, sondern gut mit eigenen Grenzen umzugehen. Und das ist wunderbar.
Wenn solch ein Wunder geschieht, dann ist das nicht unsere eigene Leistung, sondern darin wirkt Gottes heilende Nähe.
Nicht Ende, sondern Anfang
Der ehemals gelähmte Mann stand also auf, nahm seine Tragbahre und ging weg. -
Ist das nun das "Happy End" für ihn? Ende gut - alles gut?
Nein, es ist nicht das Ende, sondern ein Anfang: Jetzt beginnt sein Weg zu erfüllterem Leben ja erst! Auch als Geheilter wird er wieder stehen bleiben, fallen und wieder aufstehen - sein Leben lang, wie jeder Mensch. Aber er hat an Leib und Seele erfahren, dass Gott sich ihm zuwendet und ihn mit seiner Schwäche liebt. Seit dieser heilsamen Begegnung weiß er im Innersten, dass für ihn mehr Leben möglich ist, als er in manchem Moment sehen kann.
Neu sehen lernen
Und noch jemand lernt Neues, Befreiendes durch diese Heilung: die Beobachter der Szene. Im letzten Satz dieses Evangeliums heißt es nämlich ursprünglich:
"Da sagten alle: "So haben wir noch nie gesehen!" Plötzlich sehen sie Krankheit
und die heilsame Nähe Gottes für jeden Menschen mit neuen Augen!
So zu sehen kann auch jeder von uns von Jesus lernen. Dann können wir anderen Menschen heilend begegnen. Dann können wir einander geschwisterlich beistehen, wenn einer an dem Ziel seines Lebens vorbei lebt. So fassen auch heute "Gelähmte" Mut, sich wieder auf den Weg zu neuen Lebensmöglichkeiten, zu gottgewolltem, sinnerfülltem Leben, zu machen.
Wenn solch ein Wunder geschieht, dann wirkt darin Gottes heilende Nähe.
Manfred Wussow (2006)
Johann Pock (2000)