Von Dieben und Hirten
Ort des Geschehens: Jerusalem. Tempelberg. Die Stimmung ist angeheizt. Die Steine zum Werfen schon in der Hand. Jesus entscheidet sich zum Gehen. Die Menge ist aufgebracht. Einmal mehr hat er ihre Vorstellungen in Frage gestellt. Unterwegs, gleichsam im Vorbeigehen, heilt er einen Blinden und heißt ihn sich im Teich Schiloach zu waschen und sich den Pharisäern zu zeigen. Die Juden hatten längst schon beschlossen, jeden, der sich zu Jesus als den Messias bekennt, von ihrer Synagoge auszuschließen. So auch den geheilten Blinden. Das ist der Preis dafür, dass er nicht verschwieg, dass Jesus sein Heiland ist, sondern sich freimütig zu Jesus bekannte.
Das ist die Vorgeschichte des heutigen Evangeliums. Wiederum erhebt Jesus seine Stimme. Wo das genau in Jerusalem war, benennt der Evangelist nicht. Jesus hört nicht auf, die Dinge beim Namen zu nennen, auch dann nicht, wenn sie für die Zuhörerschaft unbequem sind. Er weiß sich von Gott gesandt und hat Mut. Und ist damit nicht der einzige damals, der sich als Messias den Menschen präsentiert. Doch Jesus ist tatsächlich der erwartete Messias, Gottes Sohn. Das ist klar für uns. Wir wissen es aus dem Evangelium. Und es ist klar für jene, die es aufgeschrieben haben. Auch für seine Jünger, die sich vorher selbst davon überzeugen konnten. Doch für viele andere ist es nicht. Noch nicht. Erfüllt von Gottes Geist beginnt Jesus einmal mehr eine Rede mit kräftigen Bildern, die jeder versteht, der sie verstehen will.
Er redet vom Dieb, der sich zu einer Unzeit und zu Unrecht Zutritt verschafft und die Schafe stiehlt und schlachtet und verkauft. Wer schon einmal einen Einbruch erlebt hat, der weiß um dessen Folgen. Es ist nicht allein der materielle Schaden, der angerichtet wird. Ein Dieb hinterlässt auch Spuren in der Seele: Angst und Unsicherheit.
Jesus stellt dem Dieb eine andere Figur gegenüber: den Hirten. Zur rechten Zeit betritt er den Stall. Die Tiere erkennen ihn an seinem Schritt, an seiner Stimme. Die Schafe vertrauen ihm. Der Hirte sorgt für Sicherheit. Der Mensch der Bibel denkt beim Hören vom Hirten an den Psalmisten, der Gott als seinen Hirten preist (Ps 23): Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Kein Preis ist Jesus zu hoch
Und nun bringt Jesus sich ins Spiel: Der Hirte, das ist er selbst. Später wird er sagen, dass der Hirt sein Leben hingibt für seine Schafe. Kein Preis ist ihm zu hoch, damit sie in Sicherheit sind, dass es ihnen gut geht. Jesus wird wie ein solcher Hirte auch sein Leben hingeben - am Kreuz. Wie der Hirt mit seinen Schafen verbunden ist, so ist es Jesus mit jenen, die zu ihm gehören.
Jesus Christus ist die Tür zum Leben in Fülle
Doch Jesus spricht von sich nicht allein als den Hirten, er ist auch die Türe: "Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden und Weide finden." Weide, das ist saftiges, frisches Gras; das sind blühende, hohe Wiesen. Wo Schafe vor lauter Freude zum Springen beginnen. Wo Überfluss erfahrbar wird. Leben in Fülle. Jesus Christus ist die Tür zum Leben in Fülle. Er ist der Zugang zum ewigen Leben. Für alle. Für Juden. Und auch für Nichtjuden. Für Heiden. Jesus erweist sich so als guter Hirt für alle, als Heilbringer für alle, als der Messias schlechthin. Er schließt nicht aus, sondern möchte allen, die sich nach diesem Leben in Fülle sehnen, einen Zugang eröffnen. Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis die Juden wiederum Steine aufheben, um sie auf Jesus zu werfen (vgl. Joh 10,31)
In diesem Evangelium begegnet uns ein selbstbewusster Jesus, der weiß, was er sagt und mit welchen Konsequenzen seiner Rede er zu rechnen hat. Einmal mehr macht er allen, die seine Rede hören, klar, was seine Sendung ist: die Menschen ohne Wenn und Aber zu Gott zu führen, zum Heil, zum Leben in Fülle. Menschen, die seiner Rede lauschten, erkennen, dass dies tatsächlich so ist. Dass sie gemeint sind in dem Bildwort, dass sie Jesus vertrauen können, wie die Schafe ihrem Hirten. Und sie hörten auch, wie sehr er sich für jene einsetzt, die von der Synagoge ausgeschlossen werden, die keinen Zugang zum Allerheiligsten im Tempel haben, denen letztlich der Zugang zum Heil bis jetzt verwehrt geblieben ist.
Gute Hirten nach dem Beispiel Jesu
Wir feiern in unserer Kirche den Gut-Hirt-Sonntag. Der Grundauftrag unserer Kirche besteht darin, das Werk Jesu in unserer Welt fortzusetzen. Suchenden Menschen Wege zu Jesus zu eröffnen. Dafür Sorge zu tragen, dass sie vor Dieben bewahrt bleiben, die Schlechtes im Schilde führen. Es ist ihre und damit auch unsere Aufgabe, die wir miteinander Volk Gottes, Kirche, sind, Menschen zu bestärken, auf die Stimme des guten Hirten, unseres Herrn Jesus Christus, zu hören. Ja, vielleicht sie auch erst mit dieser Stimme vertraut zu machen.
Manches Mal aber sind wir es vielleicht selbst, die dieser Sendung im Wege stehen, wenn wir den Zugang erschweren oder sogar verwehren, oder selbst nur auf unsere eigene Stimme hören oder auf das Blöken der anderen im Stall als auf die Stimme des guten Hirten, die Stimme Jesu.
Das Evangelium des Gut-Hirt-Sonntages erinnert uns daran, dass Jesus für jeden einzelnen von uns der Hirt und die Tür ist. Es ruft uns aber auch in eine Entscheidung hinein:
- Bin ich bereit, diesem Hirten zu vertrauen, auf sein Wort zu hören und mich von ihm in meinem Leben führen zu lassen?
- Bin ich bereit, durch die Türe, die mir offensteht, zu gehen, auch wenn ich noch nicht weiss, was sich hinter ihr befindet und mich allein auf die Zusage verlassen muss, es ist wie ein sicherer Stall und wie eine saftige Weide?
"So spricht der Herr: Ich bin der gute Hirt. Ich bin die Tür. Wer durch mich eingeht, wird gerettet werden."
Jesus nachfolgen
Bei einer Weihe oder bei einer kirchlichen Sendungsfeier fragt der Bischof die Kandidaten und die Kandidatinnen nach ihrer Bereitschaft, Jesus Christus nachzufolgen, sich immer mehr mit ihm zu verbinden und am Reich Gottes mitzuarbeiten. So sind sie Bild Jesu Christi in unserer Zeit (vgl. Liturgie der Institutiofeier des Bistums St. Gallen).
Wenn Menschen durch mich, durch mein Reden und Wirken, oder einfach nur durch mein Zuhören und Dasein etwas von Gottes Liebe aufgeht, dann kann Sehnsucht wachsen, ebenso aus dieser Liebe zu leben.
Wenn Menschen spüren, wie sehr ich mich vom guten Hirten Jesus leiten lassen, dann ist es eine Einladung an sie, dies ebenso zu versuchen.
Wenn Menschen erkennen können, wie ein kirchlicher Dienst oder eine geistliche Lebensform sinnstiftend und bereichernd ist, dann ist es eine Einladung an sie, sich selbst zu fragen, ob das nicht auch eine Möglichkeit für sie wäre.
Es gibt viele gute Hirtinnen und Hirten, mit und ohne kirchliche Beauftragung. In den Pfarreien, in den Gemeinschaften, in den Gruppierungen, in den Familien. Dank ihrem Wirken sind wir heute da und feiern miteinander Gottesdienst, hören miteinander auf die Stimme unseres guten Hirten, Jesus Christus, und lassen uns ermutigen und stärken für unseren Auftrag in der Welt und in der Kirche.