Chaos: Chance zum Aufbruch oder Anfang vom Ende
Wenn man es sich hin und wieder einmal gönnt, durch europäische und andere Fernsehkanäle zu schalten und sich Debatten in den Parlamenten dieser Welt anzuschauen, wird man mit den unterschiedlichsten Kulturen öffentlicher Kommunikation konfrontiert. In den einen Häusern wird laut und hart gestritten, in den anderen durchaus auch mal gebuht und an einigen Stellen ist es sogar schon zu Handgreiflichkeiten gekommen. Manchmal ist man geneigt, sich zu fragen, welcher Kinderstube denn der eine oder die andere Volksvertreterin entsprungen ist, oder auch wie man bei denen so zu Hause miteinander umgeht.
Aber das Parlament ist nun nicht zuerst ein Haus, in dem die Defizite früherer Kindheit zur Schau gestellt werden sollten, sondern vielmehr ein Ort, an dem Menschen darüber sinnieren, wie die Zukunft ihres Landes zu gestalten ist. Dazu gehört eben auch der intensive Austausch, in den jeder hinein gibt, was ihn bewegt, was er für richtig und förderlich hält. Aus diesen Debatten erwachsen dann konkrete Ideen, die in Beschlüssen und Gesetzen schließlich dem Volk dienen sollen.
Es ist das kreative Chaos, das möglich macht, dass viele Stimmen und Haltungen in die Fortbewegung des Landes einfließen und somit eine jede politische Entwicklung auch ein Spiegel der Vielfalt der Menschen ist. Im besten Fall. Wir wissen alle, dass bis zu diesem Ideal in den allermeisten Ländern dieser Erde noch ein weiter Weg vor den Menschen liegt.
Von Träumen und Visionen
Heute hörten wir in der Lesung aus der Apostelgeschichte von einem ähnlichem Chaos mit äußerst produktivem Charakter - so mancher Parlamentarier sollte sich die Heilige Schrift zum Vorbild nehmen. Da waren nach Jesu Auferstehung und Himmelfahrt die Freundinnen und Freunde an einem Ort versammelt, um fünfzig Tage nach dem Pessachfest das Schawuot-Fest, das jüdische Erntedankfest, zu feiern. Die Versammelten und all jene, die hinzukamen, mussten da erleben, wie ihnen durch Gottes Kraft widerfuhr, was der Prophet Joël schon lange zuvor angekündigt hatte: "Danach aber wird es geschehen, / dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, / eure Alten werden Träume haben / und eure jungen Männer haben Visionen.” (Joël 3,1).
Einst exklusiv - heute allumfassend
Wir würden sagen: So wie ihnen der Schnabel gewachsen war, erzählten sie von Gott und priesen seine Taten. Überdeutlich wurde nun den Menschen zu Augen und Ohren gebracht, dass die Botschaft Gottes keine Grenzen kennt. Jesu heilsstiftendes Wirken war nicht nur für einen auserlesenen Kreis gedacht, sondern für all jene, die in den Fußspuren Jesu gehen wollen. Die Erfahrung vom Heil sollte nicht nur von jenen direkten Zeuginnen und Zeugen weiter gegeben werden, die Jesus durch Galiläa begleitet haben, die das Drama der Hinrichtung erleben mussten und seine Auferstehung erleben durften.
"Geht hinaus in alle Welt” - das gilt nun allen Berufenen rund um die Erde. Der exklusive Kreis der Jüngerinnen und Jünger öffnete sich zu einer allumfassenden Gemeinschaft von Gerufenen: zu einer ecclesia catholica - ohne nationale und soziale oder sonst wie geartete Grenzen. Ihre Wirkung besteht nicht mehr allein nur in der Predigt und den Wundern der Apostel - vielmehr sind jetzt alle aufgerufen beizutragen, was sie haben und können, um dieses eine zu Ziel zu erreichen: Gottes Präsenz in seiner Schöpfung zur wirklichen Erfahrung der Menschen werden zu lassen. Alle - das meint eben auch uns heute.
Alle müssen mitmachen
Der Apostel Paulus erklärt das den Menschen in der Hafenstadt Korinth ganz einfach so: "Es gibt nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.” (1Kor 12,6f). Diese paulinische Aussage ist auf den ersten Blick mal ein pastorales Mutmach-Programm: Paulus traut den Menschen etwas zu. Er glaubt an sie und er ist sich sicher, dass, wenn das Ziel stimmt, der Weg nicht falsch sein kann.
Die Worte des Paulus machen aber nicht nur Mut, sie fordern auch auf und sie fordern heraus. Paulus mobilisiert die Menschen, sich für diese Botschaft Jesu zu riskieren und vielleicht Wege in dieser Welt zu gehen, die nicht en vogue sind. Er will, dass die Menschen die Ärmel hochkrempeln und sich in der Nachfolge Jesu engagieren.
Eine Herausforderung
Aber nicht nur das: Paulus fordert dabei auch die Nachfolgegemeinschaft als ganze heraus, sich der Vielfalt ihrer Individuen zu stellen. So wie sich damals im Saal von Jerusalem trotz der Vielstimmigkeit alle Anwesenden im Lob des einen Gottes erkannten, muss auch heute die Kirche die ihr innewohnende Vielfalt als ein Qualitätsmerkmal anerkennen und dieses schätzen - Vielfalt ist nicht ein Kratzer im Lack, ist nicht ein Fehler. Das mag man bejahen - aber wer trägt die Konsequenzen? Fragen wir uns doch: Wie wäre es denn etwa, wenn wir die Auftrennung der einen Kirche in verschiedene Konfessionen weniger als einen Schaden, sondern vielmehr als eine Herausforderung ansähen? Es wäre dann halt weiter zu fragen, wie man mit dieser Herausforderung umgeht.
Oder: Warum müssen wir immer wieder überall in der römisch-katholischen Kirche erleben, dass die Vielfalt so große Angst macht und dazu führt, dass genau definiert - also: abgegrenzt - wird: welche Menschen in der Nachfolge Jesu leben und welche nicht, welche Lebensweisen - zum Beispiel etwa auch: welche Partnerschaften - gottgefällig sind, welche Denkweisen dem Wohl der Kirche entsprechen. Mit großer Energie wird dann verfolgt, was nicht entspricht, statt dass diese Energie darauf verwendet wird, glaubwürdiges Zeugnis abzulegen in einer Welt, die auf genau dieses Zeugnis wartet.
Jetzt ist die Zeit da, auf neuen Wegen loszugehen: Der Geist ist uns gesandt. Fünfzig Tage haben wir aus den Ostererfahrungen gelebt und gefeiert - eine Zeit, in der wir zurückgeschaut haben und die Eindrücke des Auferstehungsgeschehens auf uns haben wirken lassen. Nun wenden wir den Blick nach vorn in die Zukunft, um aus der gestalterischen Kraft des Heiligen Geistes neue Wege zum Heil zu gehen - Wege, die vielleicht ungewöhnlich sind, Wege, die uns keiner zugetraut hätte; Wege, die manch anderem vielleicht fremd erscheinen. Jede und jeder von uns kann - jetzt und immer wieder - seine Gnadengaben einsetzen und um ein glaubwürdiges Zeugnis der Frohbotschaft besorgt sein. Und das klappt - wenn wir auf diese eine Bitte setzen: "Sende aus deinen Geist - und das Antlitz der Erde wird neu.”