Christlicher Antisemitismus
An den antisemitischen Ressentiments, die im Holocaust ihren Höhepunkt gefunden haben, waren die christlichen Kirchen nicht unschuldig. Durch alle Jahrhunderte hindurch wurden Vorbehalte gegen Juden nicht zuletzt durch Bibeltexte, wie wir sie heute im Evangelium gehört haben, genährt und geschürt. Juden wurden immer wieder als Jesusmörder bezeichnet und angegriffen. Dazu beigetragen haben eine oberflächliche Bibelauslegung und Geschichtsbetrachtung.
In den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wurden die Juden gemeinsam mit den Christen von der römischen Staatsmacht verfolgt; weil beide sich in ihrer Lebensweise und von der übrigen Bevölkerung abhoben und nicht bereit waren, nach den Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit zu leben. Dass Christen und Juden miteinander in Streit lagen, wurde von außen kaum wahrgenommen. Ihr Konflikt rührte daher, dass sich die Christen zunächst als jüdische Reformbewegung verstanden, viele Juden jedoch diese Reform ablehnten. Diese innerjüdische Auseinandersetzung durchzieht auch die ganze Epoche, in der das Neue Testament als Heilige Schrift der Christen entstanden ist. Sie bildet auch den Hintergrund des Gleichnisses, das wir an diesem Sonntag gelesen haben.
Das Gleichnis vom Weinberg
Jesus wendet darin einen rhetorischen Trick an: Er nimmt die Gleichnisrede des Propheten Jesaja, das sogenannte Lied vom Weinberg, und erzählt sie so um, dass jeder jüdische Zuhörer sie direkt auf die Hohenpriester und Ältesten des Volkes beziehen konnte. Während der Prophet seinen Zuhörern vorwarf, dass sie statt süßer Früchte nur saure Trauben als Früchte brächten, versetzt Jesus die Verantwortlichen des Volkes in die Rolle von Pächtern, die ihre Erträge nicht ablieferten sondern sich unrechtmäßig aneigneten. Die Propheten, die mit ihren Bekehrungsversuchen gescheitert sind, werden in seiner Rede zu Knechten des Gutsbesitzers.
Die Christen, die diese Auseinandersetzung Jesu mit den Anführern des jüdischen Volkes weitererzählt haben, und der Evangelist, der diese Episode niedergeschrieben hat, haben die Geschichte noch um die Rolle Jesu als Sohn des Gutsbesitzers erweitert. Für sie steht fest, dass Jesus durch die Agitationen der Hohenpriester und Ältesten zu Tode gekommen ist.
Auslegung damals ...
Wenn wir versuchen, diese Erzählung vom historischen Blickpunkt aus zu verstehen, erkennen wir mehrere Facetten.
Da ist zunächst die Frage des Propheten an jeden, der sich zum Volk Gottes zählt: Lebst Du so, dass dein Leben die von Gott erwarteten Früchte trägt?
Jesus stellt diese Frage jenen, die das Volk Gottes leiten und dafür Verantwortung tragen, dass es jene Früchte bringt, die Gott von seinem Volk erwarten kann. Er wirft den Hohenpriestern und Ältesten vor, dass sie ihre Position für sich ausnützen und außer Acht lassen, dass sie im Dienst Gottes stehen und ihr Tun von den Erwartungen Gottes her zu beurteilen hätten. Die Frage der Qualität der Früchte, ob süß oder sauer steht gar nicht mehr zur Debatte.
Aus der Sicht der jungen Kirche geht es auch um den Vorwurf, dass ihre jüdischen Kontrahenten Jesus nicht als Sohn Gottes anerkennen wollten, sondern ihn umgebracht haben.
... und heute?
Welche Botschaft enthält dieser Evangelientext für uns heute?
Wir müssen auf der Hut sein, selbst in die Rolle des Propheten zu schlüpfen oder die Rolle Jesu zu übernehmen und wen auch immer anzuklagen, sie hätten nicht die erwarteten Früchte gebracht, bzw. sie hätten sich die Früchte des Weinberges Gottes unrechtmäßig angeeignet. Es ist ein Unterschied, ob Jesus als jüdischer Prophet den Hohenpriestern und Ältesten diese Vorhaltungen macht, oder ob wir uns aus dem langen Abstand der Geschichte heraus über Angehörige jüdischer Religion damals oder heute ein Urteil anmaßen.
In der Vergangenheit gaben die Juden immer wieder eine willkommene Projektionsfläche ab für alles Mögliche, das in der jeweiligen Gesellschaft nicht funktionierte. Es war ein Leichtes, sie als das treulose Volk Gottes hinzustellen. Jede Zeit sucht sich ihre Sündenböcke, die sie für das eigene Unbehagen verantwortlich macht. Schuld sind immer die anderen. Heute sind es für die einen immer noch "die" Juden, für andere "die Muslime" oder "die" Flüchtlinge, "die" Fremden usw.
Dieser Reflex eignet sich hervorragend, um sich um die eigentliche Frage des Propheten herumzudrücken: Welche Früchte bringst du? Welche Früchte trägt dein Leben als Christ? Nimmt man die Anklage Jesu noch hinzu, müssen wir uns auch fragen: Was machst du aus dem dir anvertrauten Weinberg, dem Reich Gottes? Was machst du mit seinen Früchten?
Wer bin ich in diesem Gleichnis?
Es ist heute üblich geworden bei allem zu fragen: Was habe ich davon? So fragen sich auch viele: Was habe ich davon, Christ zu sein? Aus dem Alltagsleben haben wir auch im religiösen Bereich eine Konsumentenhaltung übernommen. Wir fragen uns, ob wir von der Kirche – vielleicht auch von Gott – alles bekommen haben, was wir glauben, dass uns zusteht.
Leicht stellt sich auch der Reflex ein, dass wir innerkirchlich andere Personen für die sauren Trauben verantwortlich machen: die Konservativen, die alles bremsen; die Progressiven, die alle Traditionen über Bord werfen; der Klerus, der nichts zusammenbringt; die Bischöfe, der Papst usw.
Wer bin ich, dass ich so über andere Urteile? Bin ich der Prophet? Bin ich Jesus? Ein unbeteiligter Zuschauer? Ein Pächter? Ein Konsument? Wen sehe ich in der Rolle des Weinbergs und der Weinstöcke, die süße Früchte bringen sollten? Wer ist das Volk Gottes?
Dank für die Früchte des Reiches Gottes
Eine Wiener Zeitung hat vor einigen Jahren begonnen, von Zeit zu Zeit eine Wochenendnummer herauszubringen, in der sie das Gute beleuchtet, das in unserer Gesellschaft da ist. Das Gelungene, das Positive soll bei aller journalistisch notwendigen Kritik anerkannt und nicht übersehen werden.
Im Herbst feiern die meisten Gemeinden Erntedank, Sie danken Gott für die Früchte der Erde, die uns reichlich zuteil werden. Diese sind nicht jedes Jahr gleich viel und gleich gut. Wir haben aber dennoch genug Grund, Gott dafür zu danken.
Wir haben auch Grund, für all das Gute zu danken, das Gott durch seinen Weinberg in die Welt bringt. Nicht alle Böden, nicht alle Weinstöcke sind gleich ertragreich.
Wie umsichtige Winzer oder Gärtner können und müssen wir uns aber auch jedes Jahr fragen: Was können oder sollen wir im kommenden Jahr besser machen? Keinem von uns bleibt die Gewissensfrage erspart: Wie gut habe ich den Weinberg, den Garten meines Lebens bestellt? Und: Bin ich mir bewusst, dass ich nur Pächter bin, der in der Verantwortung des Herrn und Besitzers des Weinbergs, dem Geber alles Guten steht?