Anders als üblich
Zum Verständnis des soeben gehörten Gleichnisses sei Folgendes vorweg geschickt: Im Orient war es nicht unüblich, einem verhassten Mitbürger, dem man sonst nicht beikommen konnte, nachts Unkrautsamen auf seine Äcker zu streuen. Die Parabel ist also keine erfundene Geschichte, sondern sehr hautnah aus dem damaligen Leben gegriffen.
Bei dem Unkraut handelt es sich wohl um den Taumellolch, eine giftige Queckenart. Die Schwierigkeit bei diesem Unkraut bestand darin, dass der Taumellolch der Gerste und dem Getreide überhaupt sehr ähnlich sah. Erst mit der Ährenbildung ließ sich der Taumellolch von anderen Getreidearten unterscheiden. So können wir verstehen, dass der Besitzer in Sorge um die gute Saat, dem spontanen Eifer seiner Knechte, die das Feld säubern möchten, Einhalt gebietet, um Vorsicht walten zu lassen.
Dass er jedoch das Jäten überhaupt verbietet, entspricht nicht der Geflogenheit. Diese Abweichung vom Üblichen liefert uns den Schlüssel für das, was Jesus seinen Jüngern ans Herz legen möchte.
Reine und Unreine
In der jüdischen Religionspraxis gab es zur Zeit Jesu eine scharfe Trennung zwischen den so genannten Frommen und Sündern, zwischen rein und unrein. Zu den Unreinen zählten: Lahme, Blinde, Aussätzige, Dirnen, Zöllner, Gerber, Menschen am Rande der Gesellschaft. Nach den Vorstellungen der Juden gehörten sie nicht zur Heilsgemeinschaft, zu denen, die von Gott geliebt werden und seinem Herzen nahe sind.
Vor allem gegen die Vorstellung, es könnte ein Mensch jemals aus der Liebe Gottes ausgeschlossen werden, zieht Jesus zu Felde: in Wort und Tat. So lässt er sich immer wieder mit den Ausgestoßenen und Verkannten ein. Er wird nicht müde, Gott als den darzustellen, der das Heil aller Menschen will. Darum durchbricht Jesus alle aufgerichteten Schranken und lebt, was er verkündet.
Streben nach Vollkommenheit
"Lasst beides wachsen bis zur Ernte" ist der Hauptgedanke der heutigen Parabel. Eine Kirche mit vollkommenen Christen - wer wünschte sie sich nicht! Und doch ist dieser Wunsch eine Illusion. Wir brauchen nur einmal auf uns selbst zu schauen. Keiner von uns wünscht sich, in irgendeiner Art ein Böser zu sein. Freundlich, hilfsbereit, stets auf das Gute bedacht, so möchten wir leben. Aber bei allem guten Willen - es gelingt nicht. Immer wieder taucht das Unkraut in uns auf: Fehler, Versagen, Sünde. Und wie uns selbst so geht es auf ihre Weise auch den anderen.
Kirche ist also eine Gemeinschaft von Sündern, größeren und kleineren. Selbst die größten Heiligen waren nicht ohne Fehl und Tadel.
Langmut und Barmherzigkeit
In diese traurige, aber der Wahrheit entsprechende Realität spricht Jesus sein Gleichnis. Er will uns vermitteln: Kein Bauer würde Unkraut bis ans Ende wachsen lassen. Gott dagegen lässt uns in seiner Barmherzigkeit und Langmut Zeit bis ans Lebensende. Weil Gott nicht die gesäuberte Kirche sucht, sondern am Heil jedes Menschen, auch des Sünders, interessiert ist, rupft er nicht aus, vernichtet er nicht, wie wir es mit dem Unkraut tun. Denn der Mensch ist keine Unkraut-Pflanze. Im Gegensatz zu den Pflanzen, die einmal gesät als Unkraut weiter wachsen, haben Menschen die Möglichkeit der Besinnung, der Umkehr und inneren Wandlung. Nichts muss im Menschen bleiben, wie es ist. Wie viele Menschen, auch mit bitterem und schwerem Versagen, kamen zu einer Umkehr, weil ihnen die vielen Jahre blieben, die sie zur Umkehr benötigten.
Kirche als Raum stetiger Erneuerung, als Feld des Wachsens in Besinnung und Umkehr mit vielen neuen Anläufen, das ist das Bild Jesu und seines Vaters von Kirche. Nicht ausschließen, nicht ausstoßen oder hängen lassen, sondern Ausschau halten wie der Vater im Gleichnis vom "verlorenen Sohn" auf Rückkehr aus Verirrungen, um mit offenen Armen neu in Gemeinschaft einzubeziehen, das ist Gottes Art und Verhaltensweise, die wir nachahmen sollen.
Gott glaubt an das Gute in uns
Wenn wir das Gleichnis Jesu vom Unkraut im Weizen auf unser Leben übertragen, so scheinen mir folgende Punkte wichtig:
Gott glaubt daran, dass der Weizen in uns neben dem Unkraut wachsen kann. Gott hat das Gute in unser Herz gelegt und schenkt mit seiner Gnade jene Kraft, die das Gute stärkt und zum Wirken bringt, so oft wir es wollen.
Gott glaubt offensichtlich auch daran, dass wir im Bösen nicht verharren. Nicht Ungeduld bringt er uns bei unseren Verfehlungen entgegen, sondern die Zusage, dass wir auch in unserem Versagen noch ganz in seine Liebe einbezogen sind. Mögen Menschen von uns Abstand nehmen, Gott hält uns weiterhin an der Hand, lässt uns nicht allein oder verkommen.
Ein Zweites möchte uns Jesus mit seinem Gleichnis ans Herz legen. Wir sollen uns vor dem ständigen Rupfen des Nächsten hüten. Gott allein weiß um die tieferen Hintergründe, die den einzelnen jeweils schwach werden ließen und ins Versagen brachten. Verurteilung und barsche Kritik haben noch nie jemandem geholfen. Jesus verweist uns auf die Barmherzigkeit Gottes, auf seine Langmut und Geduld. Ihn sollen wir uns zum Vorbild nehmen. Damit heißen wir das Böse nicht gut und verharmlosen es nicht. Aber wie ermutigend ist es für eine Umkehr, wenn wir spüren: Die anderen trauen uns den Willen und das Bemühen um Besserung zu.
Gott gibt Zeit zur Umkehr
Bei leichteren Vergehen wird uns das Verzeihen und das Beibehalten von Verbundenheit mit dem Nächsten sicher in den meisten Fällen auf Anhieb gelingen. Aber wenn wir uns nun schon einmal mit dem heutigen Gleichnis auseinandersetzen, dürfen wir die Vorkommnisse nicht ausklammern, die uns schwer auf der Seele liegen und unter denen wir zuweilen bitter leiden. Es gibt Vorkommnisse, die haben Folgen, die oft nicht rückgängig zu machen sind. Z.B. bei
- Trunkenheit am Steuer mit schwerem Verkehrsunfall
- Schädigung des anderen in seinem Ruf und Ansehen
- Generationskonflikten
- Erbstreitigkeiten
- Zerstörung einer Ehe
- Ausnutzung von Macht oder der Schwäche anderer
- Betrug mit Hinterlist und Raffinesse
Wie leicht sind wir geneigt, uns innerlich von anderen zu trennen, sobald ihr Versagen uns tief verletzt und uns das Leben schwer macht. Gott wird verstehen, dass wir in diesen Situationen den anderen nicht weiterhin jubelnd umarmen. Ja er gibt uns ganz sicher genügend Zeit, uns erst einmal wieder zu fangen und zu beruhigen.
Gottes Geduld ist kein Freibrief
Was Gott allerdings trotz dieser schwierigen Situationen verweigert, ist ein Freibrief, Hass, Gedanken der Rache, Verbitterung in uns für alle Zeit hoch zu halten und immer neu zu pflegen. Wie getroffen und verletzt wir auch wurden, Ziel und Anruf Gottes an uns bleibt das Ja zum anderen, selbst wenn es mit einer Annäherung an ihn noch dauert, weil unser Herz und unsere Seele noch Zeit für sich brauchen, um wieder voll ins Lot zu kommen.
Ich wünsche ihnen und mir, dass die Langmut und Barmherzigkeit Gottes auf unsere Herzen abfärben. Danken wir Gott, wenn wir uns selbst vor einer Verstrickung in größere Schuld bewahren konnten. Bereiten wir den Boden, auf dem Umkehr sich vollziehen kann und vollzieht, weil wir sie - wie Gott - unserem Nächsten zutrauen.
Dann bauen wir mit an einer Kirche, in deren Gemeinden und Gemeinschaften es weiterhin Sünde gibt, aber ebenso Besinnung, Umkehr und Erneuerung, wenn auch manchmal erst nach längerer Zeit.
Manfred Wussow (2008)
Alfons Jestl (1996)