"Jesus sah einen Menschen, der seit seiner Geburt blind war", so beginnt das heutige Evangelium. Jesus sah ihn, er ging nicht vorüber. Er wendet sich gerade den Menschen zu, die krank sind, die arm sind, die ausgegrenzt werden von den Selbstgerechten. Bevor er den Blindgeborenen heilt, wird er von seinen Jüngern gefragt: "Wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?"
Eine falsch gestellte Frage
Wird einer krank, weil er gesündigt hat und jetzt dafür büßen muss? Nein, der Mensch wird nicht durch Krankheiten von Gott bestraft. Er wird nicht krank, weil er das verdient hätte. In Jesus begegnen wir keinem strafenden Gott, der Genugtuung verlangt, sondern einem Gott, der gut ist zu allen Menschen. Der, wie es in der Bergpredigt heißt, seine Sonne auf gehen lässt über Guten und Bösen, der regnen lässt über Gerechten und Ungerechten (Mt 5,45). Der Blindgeborene mag Schuld auf sich geladen haben. Doch deswegen ist er nicht blind geworden.
Auf die Frage der noch einem spätjüdischen Denken verhafteten Jünger antwortet Jesus: "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Werk Gottes soll an ihm offenbar werden." Gott wirksam werden zu lassen, dazu ist Jesus gekommen. Nicht, um als Wundertäter Aufsehen zu erregen. Jesus sagt von sich, er sei das Licht der Welt: "Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat. Es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt."
Glaubst du?
Jesus hat, wie beispielsweise auch in der Begegnung mit Aussätzigen, keinerlei Berührungsängste. Im wahrsten Sinne des Wortes be-handelt er den blinden Menschen. Er lässt ihn hautnah, leibhaftig spüren, dass ihm Heilung zuteil wird. Jesus spuckt auf die Erde und macht aus dem Speichel einen Brei, den er dem Blinden auf die Augen streicht. Danach sagt Jesus dem Blinden, er solle zum Teich Schilóach gehen und sich darin waschen. Und sehend kommt er zurück. Jesus holt den Blindgeborenen aus seiner Nacht ins Licht, ins Leben.
Die Menschen hatten den Mann, der blind gewesen war, ausgefragt, ausgehorcht. auch dessen Eltern. Er erzählte ihnen, dass er an einem Sabbat von Jesus geheilt worden sei. Das Urteil der Gesetzeswächter. "Einige Pharisäer meinten", so hören wir, "Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält." Ihnen ging es nicht um den Menschen, sondern um die peinliche Erfüllung des Gesetzes. Ähnlich empörten sich die Pharisäer, als Jesus an einem Sabbat die verdorrte Hand eines Menschen heilt (Mk 3,1-6). Dann gab es weitere Einwände: "Wie kann ein Sünder", Jesus war gemeint, "solche Zeichen tun?" Schließlich wandten sie sich an den Blinden selbst: "Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet?" Der Mann antwortete: Er ist ein Prophet.
Nachdem die Pharisäer den Geheilten ausgestoßen hatten, traf Jesus ihn wieder. Er sagte zu ihm: "Glaubst du an den Menschensohn?" Der Mann fragte: "Wer ist das, Herr? Sag es mir, damit ich glaube." Jesus erwidert ihm: "Du siehst ihn vor dir. Er, der mit dir redet, ist es." Dann findet der geheilte Mann zum Glauben an Jesus: "Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder." Im Glauben an Jesus, im Vertrauen auf ihn, wurde er in seinem Innern geheilt. Er wurde sehend in der Tiefe seines Herzens. Was in ihm noch blind war, wurde licht und hell.
Heilende Begegnungen mit Jesus
Für meinen Umgang mit der Bibel ist es mir wichtig geworden, in ihr nach Begegnungen Ausschau zu halten. Nach Begegnungen, in denen Menschen mit Jesus in Berührung gekommen sind. Hinzuschauen auf die Menschen, die zu Jesus hingefunden haben, an ihn geglaubt, ihm vertraut haben. Wahrzunehmen, wie kranke, heilungsbedürftige Menschen von Jesus geheilt wurden. Das waren die Tauben, die Stummen, die Lahmen, die Aussätzigen, die Blinden. All diese Begegnungsgeschichten sind weitererzählt worden, damit wir in ihnen Jesus begegnen, mit ihm in Berührung kommen. Sonst wären es erbauliche Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit geblieben, die uns selber nicht betreffen. Ich möchte mich wiedererkennen in jenen Menschen, die Heilung bei Jesus gesucht haben, die geheilt werden wollten von dem, was sie noch krank sein ließ, was sie niederdrückte, was ihnen Angst machte. "Er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten", lesen wir im Markusevangelium (Mk 1,43). So müsste ich mich dann auch fragen: Was ist in mir noch blind, noch taub, noch stumm? Was ist in der Tiefe meines Herzens noch krank?
An Jesus hat sich die Verheißung des Propheten Jesaja erfüllt: "Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist" (Jes 61,1). Jesus konnte in der Synagoge von Nazaret von sich sagen: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe"(Lk 4,18f.). Jesus lädt uns ein, zu ihm zu kommen: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen" (Mt 11,28).