In Güte und Achtung ermahnen
Das heutige Evangelium, das sich inhaltlich mit dem Ermahnen befasst, schreibt Matthäus aus einer doppelten Sorge. Einmal galt es zu bedenken, dass die jüdische Umwelt die neue Gemeinschaft der Christen ständig beäugte und mit Argwohn betrachtete. Jedes Versagen unter den Christen wurde hervorgehoben und herausgestellt. Aufgespürtes Fehlverhalten bot den Gegnern Stoff, das Christentum madig zu machen. Gröbere Verfehlungen Einzelner, Uneinigkeit oder gar gehässiger Streit in der Gemeinde, alles wurde zu einem Hindernis für die christliche Mission.
Abgesehen davon war es Matthäus ein Anliegen, die Gläubigen zu ermutigen, schon von sich aus zu falschem Verhalten nicht einfach zu schweigen und alles laufen zu lassen. Der Evangelist wollte erreichen, dass unrechtem Verhalten Einhalt geboten werde durch gegenseitiges Ermahnen.
Die von Matthäus vorgeschlagene feinfühlige Art, wie ein Mahnen vollzogen werden sollte, entnimmt er den Weisungen Jesu. Und es lässt sich deutlich erkennen, dass der Evangelist sich der Mahnung Jesu bewusst ist, sich nicht zum Richter über andere aufzuschwingen. „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, aber den Balken im eigenen Auge siehst du nicht“, hatte Jesus gesagt. Zunächst „vor der eigenen Tür kehren“ setzt der Evangelist als persönliche Haltung voraus.
Aktive Versöhnung
Aber es allein dabei zu belassen, ist dem Evangelisten zu wenig. Denn er weiß auch um die Chance, die sich eröffnen kann, wenn Fehlverhalten gegenseitig angesprochen wird. Es ist keine Tugend, zu allem zu schweigen. Darauf möchte Matthäus hinweisen. Daher wirbt er um ein gegenseitiges Ermahnen, das allerdings von Güte und Vorsicht getragen ist. In Achtung voreinander und aus Liebe zueinander sollen die Gläubigen Fehlverhalten, wodurch der Einzelne sich selbst und anderen schadet, gegenseitig ansprechen. Wo dies einfühlsam, liebevoll und in Achtung geschieht, wird Güte der Grundton des Gesprächs sein, in dem Vorwürfe, Anklage und Erniedrigung unterbleiben.
Ein erster Versuch soll unter vier Augen stattfinden. Der Vorteil besteht darin: Ein Bloßstellen wird so schon einmal vermieden. Wenn dann noch hinzukommt, dass im Gespräch miteinander Vorwürfe, Anklage und Beschämung unterlassen werden, kann der Angesprochene oft leicht die Gründe benennen, die ihn zu seinem Handeln veranlassten. Aus eigener Erfahrung können wir uns ausmalen, dass im Angesprochenen viel Kraft zur Umkehr geweckt wird, wenn er spürt und erfährt: Ihm wird weitaus Besseres zugetraut. Das Loslassen von seinem Fehlverhalten – z.B. das Abrücken von Rache, Gewalt, Zufügen von Gehässigkeiten – wird nicht als Schwäche ausgelegt. Ihm wird durch das Gespräch eventuell sogar Hilfe angeboten, falls eine Veränderung in seinem Verhalten nur schwer und mit Überwindung vieler Hindernisse zu gestalten ist. Wo Güte und Wohlwollen ein Vier-Augen-Gespräch bestimmen, ist oft mit einem Erfolg zu rechnen.
Nun kann es sein, dass man im Gespräch unter vier Augen spürt: Ich bin nicht die richtige Person, auf den sich der Betroffene einlassen kann. Hier regt Matthäus an: Zieh dich nicht einfach oder sogar beleidigt zurück. Schau dich vielmehr um, ob du jemanden oder mehrere findest, auf die der Angesprochene eher oder vielleicht sogar gern hört. Nimm sie mit und versuch es neu.
Abwehr von Spaltung
Bei dem dritten Vorschlag des Matthäus – ein Fehlverhalten ins Gespräch mit der gesamten Gemeinde einzubringen – geht es nicht darum, den Druck auf den Einzelnen zu erhöhen, um ihn gewaltsam in die Knie zu zwingen; sondern es geht darum, es in einer Gemeinde nicht zur Spaltung kommen zu lassen. Es gibt ja immer wieder einmal Verfechter von eigenen Meinungen, die dem christlichen Geist widersprechen. Matthäus möchte verhindern, dass es in diesem Fall dann innerhalb der Gemeinde zu Missmut, Streit und Abkehr voneinander kommt. Wenn Gespräche unter vier Augen mit den Einzelnen nichts bewirken, dann ist zur Abwehr von Spaltung und sich bekämpfenden Gruppen die Gemeinde als Ganze gefordert, ins Gespräch miteinander einzutreten mit der Frage: Was ist im Sinne Jesu richtig, was ist andererseits deutlich abzulehnen? In welchen Formen und auf welche Weise ist der Wille Gottes zu verwirklichen?
Für Matthäus ist klar: Jeder Einzelne in der Gemeinde ist mitverantwortlich, zu lebendigem, christlichen Handeln und Verhalten in seiner Gemeinde beizutragen. Daher darf das Gespräch miteinander nicht unterbleiben. Viel Negatives entwickelt sich oft, weil grundsätzlich oder viel zu schnell geschwiegen wird. Dem möchte der Evangelist entgegenwirken. Natürlich sollen die Gespräche in der Gemeinde besonnen, sachlich, fair und mit Geduld geführt werden. Das Ziel ist: Dem Geist Jesu Widersprechendes eine deutliche Absage zu erteilen und jedes weitere Fortbestehen zu unterbinden.
Matthäus weiß, dass es im Wissen um eigenes Versagen Mut, Selbstüberwindung und viel Kraft kostet, jemanden wegen seines Fehlverhaltens zur Rede zu stellen. Andererseits kann durch Schweigen aber auch die Chance vertan werden, Umkehr anzuregen, die dem Betroffenen sowie anderen zugutekommen würde. So wirbt der Evangelist bei den Gläubigen darum, die Verantwortung für den Nächsten und die Gemeinde nicht auszublenden. Natürlich soll alles Ermahnen im Geiste Jesu geschehen: mit Güte, Wohlwollen, ohne jedes Moralisieren und Demütigen. Genau das zeichnet ja liebevolle Verantwortung und echte gegenseitige Wertschätzung aus.
Getragen von Gebet
Sicher nicht unbedacht, sondern sehr bewusst setzt Matthäus an den Schluss seiner Werbung für gegenseitiges Ermahnen den Aufruf zum Gebet. Er verweist auf Jesus, der zugesichert hat: Alles, was zwei von euch auf Erden erbitten, werden sie von meinem Vater im Himmel erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. Miteinander Betenden gelingt es oft am ehesten, sich in den Geist von Demut, Güte, Wohlwollen, Geduld, aber auch von Beherztheit und Entschlossenheit einzuklinken. Durch das Vertrauen in Gottes versprochenen und zugesicherten Beistand sollen sich die Gläubigen zurüsten und im Geiste Jesu gütig und wohlwollend, aber auch entschlossen ans Werk gehen. Lassen auch wir uns von Matthäus dazu einladen!