Wie viel Christentum braucht Europa?
Allein schon das Ansinnen, in unseren Breiten eine Mosche mit einem weithin sichtbaren Minarett oder einen buddhistischen Stupa-Bau zu errichten, ruft heftige Auseinandersetzungen hervor. Nicht selten treten dabei Personen als Schützer des Christentums auf, die am alltäglichen Leben der christlichen Kirchen wenig beteiligt sind.
Des Weiteren wird je nach Anlass heftig diskutiert, in welcher Weise Menschen ihre Religionszugehörigkeit nach außen sichtbar machen dürfen, wann und wo die Burka getragen werden darf, ob der Islam zu Deutschland gehört, ob nicht auch der Einfluss der christlichen Bekenntnisse zurückgedrängt werden müsse u.v.a.m.
In der Diskussion werden die unterschiedlichsten Aspekte bunt gemischt. Die einen verteidigen das Recht, dass jeder seine Religion frei wählen und frei äußern kann, andere bemühen sich das öffentliche Leben von Religion zu befreien. Die einen suchen eine Grundsatzdiskussion, die anderen ringen um eine europaweite "Marktordnung für Religionen". Wie viel Religion müssen wir den Menschen zugestehen, fragen die einen, wie viel Religion, wie viel Christentum braucht unsere Gesellschaft, fragen die anderen.
Wohl kaum jemand wird dabei auf die reichen Schätze einer vom Christentum dominierten Kultur verzichten wollen. Was wäre Europa ohne seine christlichen Baudenkmäler? Das gleiche gilt auch für die Musik, die Malerei, die Literatur usw. Das bezieht sich jedoch auf die Vergangenheit. Diese kann bis zu einem gewissen Grad museal konserviert werden. Brauchen wir jedoch ein Christentum auch für die Gegenwart?
Die Früchte der Religionen und Weltanschauungen
Im Evangelium dieses Sonntags erhebt Jesus den Anspruch "Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt." - Ist dies nicht völlig vermessen? Müssen wir diesen Anspruch nicht angesichts der Früchte, die andere Religionen im Laufe der Jahrhunderte gebracht haben, entschieden zurückweisen? Auch der Humanismus, der ohne Religion auskommen möchte, trägt Früchte, ohne die unsere Gegenwartskultur arm da stünde...
In Diskussionen um Glauben und Kirche, um Gott und die Welt, wie ich sie als Priester immer wieder führen muss, werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert: Kann ich nicht auch ohne Religion, ohne Christentum ein guter Mensch sein? Meist wird sie untermauert mit Beispielen, die zeigen, dass manche Nichtgläubige besser sind als viele, die sich zum Christentum bekennen. Auf eine ähnliche Argumentation laufen viele Nachweise hinaus, die unermüdlich in Erinnerung rufen, wie prominente Vertreter des Christentums versagt haben.
Für mich steht außer Zweifel, dass andere Religionen und andere Kulturen ebenso gute Menschen hervorgebracht haben, zu denen wir mit Recht aufschauen.
Für mich steht aber ebenso außer Zweifel, dass wir zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wenn die einzelnen Religionen oder humanistischen Richtungen ihre Vorstellungen vom "guten Menschen" ausformulieren.
Was mir Christus ermöglicht
Was ich am Christentum schätze und in einer gegenwärtigen Wertediskussion nicht vermissen möchte, ist die Wertschätzung jedes menschlichen Lebens aufgrund der Personwürde jedes Einzelnen. Welchen Platz räumen wir in unserer Gesellschaft Behinderten, Kranken, Alten, Minderbegabten (was auch immer von Fall zu Fall darunter verstanden wird) ein? Der Glaube an einen liebenden Schöpfer verlangt mir Ehrfurcht ab vor allem, was da ist. Er verlangt von mir auf Verhaltensweisen zu verzichten, die für die Zukunft der Schöpfung schädlich sind. Zugleich ist der christliche Gottesglaube für mich die Grundlage jeder Form von Gerechtigkeit und gerechter Verteilung der Lebensgüter.
Die Verbindung mit Jesus ist mir wichtig, weil ich durch ihn Zugang zu diesen für mich grundlegenden Werten und Haltungen habe. Das Bild vom Weinstock und den Reben ist mir in diesem Sinn richtungweisend und hilfreich.
Dabei geht es mir mehr um gelebtes Christsein als um die Verteidigung des Christentums oder um Christentümelei. Gelebtes Christsein bringt Früchte hervor, die ich auch in unserer gegenwärtigen Welt nicht vermissen möchte. Und jede ernst zu nehmende Politik wird darum bemüht sein, das Wachsen solcher Früchte zu fördern.
Mit dem Bild des Weinstocks und den Reben kann ich gut mit Menschen anderer Religionen oder Weltanschauungen zusammenleben, solange auch sie mich meine Religion ungehindert leben lassen. Wenn ich mit ihnen ins Gespräch komme, werde ich sie fragen, aus welchen Quellen sie leben, und eventuell mit ihnen über die Früchte diskutieren, die ihr Glaube hervorbringt.
Die Frage, wie viel Christentum wir heute brauchen, kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Menschen, die durch Christus mit Gott verbunden sind und aus dieser Verbindung heraus ihr Leben gestalten, können jedoch nie zu viele sein. Und die Früchte, die sie hervorbringen, werden auch in die Gegenwart geschätzt sein.