Die Botschaft Jesu von einem grenzenlos liebenden Gott fand in den Herzen der Schriftgelehrten und Pharisäer keinen Widerhall, weil sie auf eine legalistische Moral fixiert waren und auf ihre eigene Leistung setzten. Darum geriet Jesus immer wieder in Konflikt mit den geistlichen Führern Israels.
Keine Gesetzesmoral
So hören wir in dem Abschnitt aus dem Markusevangelium, den wir heute gehört haben, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten Jesus fragten, warum seine Jünger nicht den Überlieferungen der Alten folgen. Die Gesetzeswidrigkeit bestand in ihren Augen darin, dass die Jünger Jesu mit ungewaschenen Händen essen, mit unreinen Händen. In der Auslegung der Gesetzeslehrer wurden sie damit auch innerlich unrein. Jesus nimmt das Wort "unrein" auf und sagt den Umstehenden, dass das Unreine nicht am äußeren Verhalten abzulesen ist, in unserem Fall an den ungewaschenen Händen. Unreinheit, das Böse, sagt Jesus, ist vielmehr etwas, was sich im Herzen des Menschen abspielt. In bösen Gedanken, in einem unguten Verhaltens. Jesus bringt dafür einige Beispiele, so unter anderem: Habgier, Neid, Hinterlist, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft.
Es gibt auch andere Situationen, wo Jesus von den Pharisäern und Schriftgelehrten zur Rede gestellt wird. Im Lukasevangelium wird davon erzählt, wie Jesus an einem Sabbat mit seinen Jüngern durch die Kornfelder wandert. Diese reißen Ähren ab, zerreiben sie in ihren Händen und essen die Körner. Einen solchen Mundraub konnten die Schriftgelehrten und Pharisäer noch zulassen, weil das armen Leuten gestattet war. Die Gesetzeswidrigkeit lag vielmehr aus ihrer Sicht darin, dass sie dies an einem Sabbat taten, wo an nichts Hand angelegt werden durfte. So jedenfalls interpretierten die Gesetzeskundigen die Weisung Gottes, dass der Mensch den Sabbat halten soll. Heute noch verbieten die streng orthodoxen Juden, dass man an einem Sabbat zum Anzünden einer Kerze ein Streichholz gebraucht, am Vortag müsse schon für das Feuer gesorgt werden.
Auch wir haben in unserem Moralstudium nach dem Krieg noch darüber diskutiert, ob Frauen am Sonntag stricken dürfen. Jesus sagte damals den Moralexperten: "Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren - wie er in das Haus Gottes ging und die heiligen Brote nahm. die nur die Priester essen durften, und wie er sie aß und auch seinen Begleitern davon gab? Und Jesus fügte hinzu: Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat" (Lk 6, 3-5). In der Version der Ährengeschichte bei Markus heißt es: "Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat" (Mk 2, 27).
Am Sabbatgebot macht Jesus deutlich, dass die Gesetze nicht um ihrer selbst willen da sind. Sie sollen vielmehr dem Menschen dazu verhelfen, frei und zugleich verantwortlich zu handeln. Noch einmal Chesterton: "Laternenpfähle sind dazu da, dass sie den Weg beleuchten - nur Betrunkene halten sich daran fest." Es gilt, die Gesetze sinngemäß, der Situation entsprechend, zu interpretieren. Nicht selten gibt es Konfliktsituationen, wo wir das Bessere wählen müssen, das "maius bonum".
Diese Fragestellung ist auch heute im kirchlichen Leben gegenwärtig. Aufgrund eines engen Gesetzesverständnisses gerät in manchen Auseinandersetzungen der Mensch aus dem Blick: Etwa über die Zulassung von Geschiedenen zur Kommunion, über die Schwangerschaftskonfliktberatung, über verheiratete Priester, Aidsbekämpfung, und anderes mehr.
Jesus geht es um den Menschen
Schauen wir noch auf eine andere Begebenheit, wo Jesus die gesetzestreuen Pharisäern und Schriftgelehrten in den Spiegel ihrer veräußerlichten und menschenfernen Moral blicken lässt. Jesus begegnete an einem Sabbat in der Synagoge einem Menschen, dem die rechte Hand verdorrt war (Lk 6, 6-11). Diejenigen, die sich im Gesetz Gottes auskannten oder auszukennen meinten, lagen wiederum auf der Lauer. Was wird dieser Jesus, der sich, wie man sagt, nicht an das Mosaische Gesetz hält, jetzt tun? Jesus ahnt, was sie im Schilde führen. Ehe er die verdorrte Hand des Mannes heil macht, stellt er ihn in die Mitte und fragt die Gesetzeslehrer: "Was ist am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zugrunde gehen zu lassen? Sie aber schwiegen. Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz" (Mk 3, 4f.).Jesus geht es um das Leben, nicht um eine Erfüllung des Gesetzes um jeden Preis, am Menschen vorbei. Den Menschen, wie diesen Mann mit der verdorrten Hand, stellt Jesus in die Mitte.
Jesus ist konsequent im Verkünden der Menschenfreundlichkeit Gottes und dem Handeln danach. Auf die an Jesus gerichtete Frage, warum sich seine Jünger nicht an das Gesetz halten, hat er ihnen geantwortet: "Der Prophet Jesaja hatte recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren, was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen." (Mk 7, 6-8). Dann sagt er weiter - in der heutigen Evangelienperikope leider ausgelassen: "Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft und haltet euch an eure eigene Überlieferung."
Jesus wendet das an auf die den Eltern geschuldete Ehre, die nicht durch eine rituelle Opfergabe abgegolten werden kann: "Mose hat zum Beispiel gesagt: Ehre deinen Vater und deine Mutter!, und: Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden. Ihr aber lehrt: Es ist erlaubt, dass einer zu seinem Vater oder seiner Mutter sagt: Was ich dir schulde, ist Korbán, das heißt: eine Opfergabe. Damit hindert ihr ihn daran, noch etwas für Vater oder Mutter zu tun. So setzt ihr durch eure eigene Überlieferung Gottes Wort außer Kraft. Und ähnlich handelt ihr in vielen Fällen" (Mk 7, 9-13).
Inwieweit könnte dies auch uns betreffen? Wir sollten uns fragen, ob es auch bei uns ein zu sehr auf Normen und Vorschriften fixiertes Verhalten gibt, bei dem wir Menschen, die in eine schwierigen Situation geraten sind, nicht gerecht wird. Oft müssen wir eine Güterabwägung vorzunehmen. Zwei Werte miteinander abwägen. So kann es beispielsweise einmal nötig werden, die Unwahrheit zu sagen oder die Wahrheit zu verschweigen, damit ein anderer nicht in Verruf gerät oder Schaden leidet.
"Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin"
Paulus hat in seiner Glaubensgeschichte eine tief greifende Umwandlung erfahren. Er war ein gesetzestreuer Pharisäer und hat die meisten, wie er einmal schreibt, in der Treue zum jüdischen Gesetz übertroffen (Gal 1, 4; Phil 3, 6). Aber dann wurde er zu der Einsicht geführt: Alles, was ich bisher getan habe, war eitles Rühmen aufgrund perfekter Gesetzeserfüllung. Nun jedoch, schreibt den Christen von Philippi, "suche ich nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus stammt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt" (Phil 3, 9; vgl. auch Gal 2, 6).
Die Gesetze Gottes sind nicht abgeschafft, doch "das Gesetz" als der vermeintliche Weg zum Heil hat seine Gültigkeit verloren. Paulus setzt allein auf die Gnade: "Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben" (1 Kor 15, 10). "Aus Gnade seid ihr gerettet", lesen wir in seinem Brief an die Christen von Ephesus (Eph 2, 5). Die einzige Vorbedingung, die Gott an uns stellt, ist der Glaube. Dass wir ihm seine Liebe glauben, uns ihr öffnen! Doch selbst das ist schon von der Gnade Gottes bewirkt, ist schon im voraus von Gott bereitet (Eph 2, 10). "Gott ist es", so wieder im Brief an die Philipper, "der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus" (Phil 2, 13). Und was wir dann selber zu tun vermögen, verdanken wir allein der schenkenden, freigebigen Güte Gottes.
"Ohne Liebe ist alles nichts"
Ohne Liebe ist alles nichts! - mit diesem Wort der hl. Teresa von Avila könnte man das "Hohe Lied der Liebe" im 1. Korintherbrief überschreiben. Dieses Lied setzt neue unerhörte Wertmaßstäbe. Ich mag, wird da gesagt, noch so viel an guten Werken und frommen Leistungen aufzuweisen haben - dies alles wäre vergeblich, wenn es nicht von der Liebe inspiriert wäre. Was ich da zustande bringe, kann leicht zum Selbstzweck werden oder der Selbstbespiegelung dienen. Paulus geht sogar so weit zu sagen: "Wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich den Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts" (1 Kor 13, 2b u. 3).
Der Pharisäer, der, wie es die Beispielserzählung vom ihm und dem Zöllner zeigt, der so viel aufzuweisen und vorzuzeigen hatte, ging nicht gerechtfertigt nach Hause. Er wusste sich in seiner Gesetzestreue und in seinem Leistungsstolz nicht angewiesen auf Gottes zuvorkommende Gnade (der theologische Begriff: gratia praeveniens). Er meinte, sich durch seine frommen Werke Gottes Wohlwollen erkaufen zu können. Gott war ihm aufgrund seiner perfekten Erfüllung der Gesetze den Lohn schuldig. Dies war reine Lohnmoral.
Denen, die sich vor Gott groß vorkamen, war dann auch nicht viel am Menschen gelegen. Eigentlich suchten sie in ihrem Tun letztlich nicht Gott und ihre Mitmenschen, sondern schauten sich sozusagen selber zu bei dem, was sie an guten und frommen Werken aufzuweisen hatten. Alles, was sie geleistet hatten, könnte man als der Widerhall an der Schallmauer des eigenen Ichs bezeichnen.
Ohne Liebe ist alles nichts. Gottes vorbehaltlose Liebe, wie sie der Zöllner erfahren hat, kann für uns jedoch kein Freibrief sein. Als sollten wir in unserem Handeln alles Gott überlassen. Aber können wir denn, die wir in Jesus Gottes verschwenderische Liebe erfahren, ohne Verdienste und Vorleistungen, etwas anderes tun, als dieser Liebe in unserem Herzen Raum zu geben und an andere Menschen weiter zu schenken? Noch einmal mit Paulus gesprochen: "Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben" (1 Kor 15, 10).
Norbert Riebartsch (2015)
Antonia Keßelring (2003)
Martin Leitgöb (1997)