In allen Kirchen und Kapellen steht ein Altar, irgendein Tisch aus Stein, unverrückbar, monumental und meistens kostbar. Vielleicht wäre ein Tisch aus Holz besser: schlicht und klar. Statt der goldenen Ziborien müßten darauf Holzschalen oder kleine Körbe stehen. Darin liegt das Brot, das möglichst viel Ähnlichkeit mit dem Brot hat, das wir daheim auf den Tisch stellen.
Während die Anwesenden um den Tisch sitzen, steht besonders das Brot im Mittelpunkt des Vorgangs. Es wird gebrochen und verteilt, weitergereicht) Menschen treten hervor, halten die offene Hand auf, sie empfangen das Brot und sagen "Amen", in moderne Sprache etwa mit "Danke schön" übersetzt.
Man sieht nur einfache Gebärden und hoffentlich keine mechanischen Handgriffe. Was wollen wir durch sie, in diesem Ritus, in diesem Spiel zum Ausdruck bringen? Vielleicht möchten wir durch sie bezeugen, daß wir dem Evangelium, das uns verkündigt wird, zustimmen; wir setzen ein Zeichen, wir beteiligen uns daran, glauben mit unseren Händen. Man kann selbstverständlich auch sitzen bleiben, wenn man meint, eine Antwort sei noch verfrüht, oder wenn man sich nicht für das einsetzen will, was man gehört hat.
Es ist also eine Gebärde der Zustimmung und der Zusammengehörigkeit; wir alle empfangen ein Stückchen desselben Brotes. So tief und weit unsere Zusammengehörigkeit reicht, so tief und weit ist auch diese Geste des Brotbrechens, die uns aus der Frühzeit der Kirche überliefert wurde.
In vielfacher Weise passen Menschen zueinander und in zahllosen Variationen haben sie miteinander teil an dieser Welt, diesem Leben. Auf einem kleinen Grundstück steht ein großes Wohnhaus, in dem jeder Laut hörbar ist; auf einer kurzen Wegstrecke bemühen sich tausende eilende, gehetzte, ziemlich nervöse Menschen, einander zu überholen. Wir teilen miteinander den vorhandenen Raum, die Wohlfahrt, die Worte, die Freude: doppelte Freude, aber auch den Schmerz, halben Schmerz - oder doch doppelten Schmerz? Wie war das doch? Wir teilen miteinander alles mögliche und bekommen ungefragt unseren Teil: Krieg und Frieden und so weiter. Wann ist man jemand, ein Mensch? Wenn man am Leben anderer Menschen teilhat, wenn man funktionieren darf im Glück eines anderen, wenn man sich schenken und etwas empfangen kann, wenn man angenommen und akzeptiert wird. In einem Gedicht sagt Jan Eiburg, was das Leben ist:
Gegessen werden,
um Mann zu sein, Frau zu sein,
vor allem aufs neue Mensch zu sein
und doch sich selbst in Liebe zu sammeln.
Jeder weiß irgendwie, intuitiv, durch Schaden und Schande, daß Geben und Nehmen in jeder Beziehung mit Glück zu tun hat, daß man selbst zerbrechen, sich verschenken muß - daß es sonst kein Leben ist. Wer oder was wären wir, wenn es uns nicht widerfahren wäre, wenn wir nicht empfangen hätten, nicht empfangen wären? Wir wären dann im Keim erstickte Seelen, aber keine Menschen. Man hat uns ernährt, bis wir selbst jemand waren, der die anderen ernähren kann, "jemand", einer der vielen, Durchschnitt.
Adam heißt er in der Bibel: ein Jedermann-Mensch. Ein solcher Durchschnittsmensch heiratet zum Beispiel eines Tages, er hat ein Stück Welt (eine vorhandene Situation), Kinder, einen Freundeskreis. Er arbeitet mit Freude, ambitioniert, mit Widerwillen, weil es sein muß, weil er will. Er arbeitet mit seinem Kopf, seinen Händen und seiner Seele, und diese Arbeit hat einen Wert, einen Geldwert, die Arbeit wird mit Geld beglichen. Dieser Mensch macht sich selbst zu Geld, er verdient für sich selbst und für die anderen, die ihm gegeben wurden, den Lebensunterhalt, Brot, eine Wohnung, Freiheit, Urlaub. Man könnte etwa sagen: Im Brot, das auf den Tisch kommt, liegt er selber auf dem Tisch, er ist selber Brot geworden,
Mundvorrat für seine Kinder. "Das bin ich selbst", könnte er sagen, wenn er das Brot bricht und verteilt: "Das ist mein Leib", und jeder würde verstehen, was er damit meint:
Gegessen werden,
um Mann zu sein, Frau zu sein,
vor allem aufs neue Mensch zu sein
und doch sich selbst in Liebe zu sammeln.
Erst wenn man selbst "jemand" geworden ist, kann man realisieren, was man schon längst am eigenen Leib erfahren hat: daß man lebt auf Kosten - ja, aber wessen? Des Lebensopfers anderer? Dieses Wort klingt wohl zu schwer, zu dramatisch. Aber es stimmt: Man lebt auf Kosten der Arbeitskraft und der Treue anderer Menschen. Es ist die Treue, die dieses Geschehen an einem Mann, der zu Geld, Brot, Leben, zum Menschen-für-andere wird, fortsetzt und dauerhaft macht. In dieser Treue findet er sein Glück - und seinen Tod. Denn jeder Tag Arbeit ist ein Stück seiner selbst und jedes Jahr Anstrengung kostet ihn ein Jahr seines Leibes. Wenn man so lebt, beinhaltet das: Verschleiß, älter werden, sich verbrauchen, langsam aber sicher sterben. Er wurde gesät in dieses Stück der Welt, das ihm zugeteilt war, er wurde wie Weizen gemäht, gedroschen, geschlagen, gemahlen, als Brot gesammelt, gegessen, um aufs neue Mensch zu sein. So geht es in der Welt, und es ist eine Selbstverständlichkeit, von der jeder Bauer weiß. Das sterbende Weizenkorn ist Bild und Gleichnis des Menschen, kein tragisches Bild, denn es handelt sich nicht um eine kosmische Katastrophe, eine herabstürzende Sonne, sondern um etwas unsichtbar Geringes; es ergibt sich einfach, sozusagen zwischen den Straßensteinen. Der Schmerz ist daran nicht sichtbar, und wenn es uns widerfährt, wenn wir dieser Mensch, dieses Weizenkorn sind, so ist uns das schon recht.
Im Evangelium ist das Weizenkorn Bild und Gleichnis Jesu von Nazareth, des Menschensohns, der nicht für sich selbst gelebt hat und nicht für sich selbst gestorben ist. Das Evangelium nennt ihn: Brot für das Leben der Welt; es weiß, daß er das Geheimnis seines Lebens in einer vielsagenden Gebärde bildlich ausgedrückt hat: daß er das Brot gebrochen und gegeben hat, um gegessen zu werden und so der neue Mensch zu sein. Die Kirche, die immer aufs neue aus dem Evangelium geboren werden muß, erkennt in dieser Gebärde Jesu das Geheimnis des Lebens selbst, denn niemand lebt für sich selbst und niemand stirbt für sich selbst.
Brot brechen und untereinander verteilen, die offene Hand ausstrecken, diese kleinen, wehrlosen und immer wieder gleichen Gebärden verstehen wir als Gesten, die sich auf Christus beziehen. Für uns können sie die Bedeutung haben, daß wir ihn im Gedächtnis behalten, sein Leben nachvollziehen, ihm entgegenhoffen wollen; daß wir unser Heil in diesem Menschen sehen, so wie er war, und in Gott, den er seinen Vater nannte, daß wir glauben an Geben und Empfangen, an Zusammengehörigkeit, an unser eigenes Lebensgeheimnis.
Zum Teil ist es auch eine verzweifelte Gebärde, mit der wir bekennen, daß wir es nicht bewältigen können und nicht wissen, wie das auf weltweiter Ebene vor sich gehen soll: dieses Brechen und Austeilen des Brotes. Es ist eine machtlose Gebärde wider den Hunger in der Welt, ein Ausdruck der Kollektivschuld. Bildlich drücken wir uns aus, sind uns bewußt, daß diese Vision noch immer keine Wirklichkeit geworden ist. Zugleich aber bekennen wir uns zu der Zukunftsvision einer Welt in Gerechtigkeit, in der wir einander nicht mehr zerreißen, sondern das tun, was jetzt noch undenkbar und unmöglich ist, in der wir sind, was jetzt noch nicht sein kann: Menschen in Frieden.
Aus: Huub Oosterhuis, Du bist der Atem und die Glut. Gesammelte Meditationen und Gebete. Herder Verlag, Freiburg Basel Wien 1994.
Hans Hütter (1996)
Bernhard Zahrl (2011)
Martin Stewen (2014)