Viel Volk
Heute ist im Tempel viel los! Es sind viele Menschen hier, Jesus lehrt sie, Schriftgelehrte und Pharisäer tauchen mit einer Frau auf, frisch beim Ehebruch ertappt - es ist, als ob ein richtig großes Tribunal eröffnet wird. Für Öffentlichkeit ist gesorgt. An diesem frühen Morgen. Nur platt getreten wird heute nichts. Es wird auch kein Stein geworfen. Die Reporter, wären sie denn heute auch dabei, hätten ihre liebe Not, aus dieser Geschichte etwas zu machen. Klick, vielleicht - wenigstens - ein Foto?
Bloßgestellt
Nur: Foto von was, von wem? Von der Frau? Wie muss sich die Frau wohl fühlen, hierhin gezerrt zu werden, dann auch noch in die Mitte gestellt - zur Schau gestellt. Der Vorwurf ist ebenso einfach wie schwierig: man habe sie beim Ehebruch ertappt. Entschuldigung, gehören da nicht zwei dazu? Wo ist der Mann? Ich spüre den Unwillen in mir. Dass überhaupt nichts erzählt wird, irritiert mich dann auch noch. Welche Geschichte hat diese Frau denn? Was könnte sie erzählen, was müsste sie erzählen dürfen? Aber dann, bitte, nicht vor allen Augen, allen Ohren. Ich mag sie nicht - die feinen Herren, die sich ihr Freiwild suchen. Die sich in Moral hüllen. Die die Gerechtigkeit immer auf ihrer Seite wähnen. Aber vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass sich das alles in großer Öffentlichkeit entpuppt.
Johannes, der Evangelist, inszeniert die Geschichte liebevoll. Vielleicht auch ein wenig boshaft. Parteiisch allemal. Noch wird nicht gesteinigt. Noch ist die Geschichte offen. Schade nur, dass die Menge schweigt. Die Menge schweigt immer. Fotografieren? Lieber nicht.
Gebückt
Vielleicht ein Foto von Jesus? Er hat eine gebückte Haltung eingenommen, sich klein gemacht, vielleicht kniet er auch einfach nur auf der Erde. Wir sehen seinen Finger über den sandigen Boden unter sich huschen. Konzentriert, die Welt um sich vergessend. Schriftzeichen fügt sich an Schriftzeichen - um dann auch gleich wieder zu verwischen. Ich sehe die zusammengekniffenen Augen, aber entziffern kann keiner, was Jesus schreibt. Auf die Erde. In den Sand. Eine große Ruhe geht von ihm aus. Seine gebückte, demütige Haltung gibt dieser Geschichte ihre Mitte - und lenkt alle Blicke ab von der Frau. Die Gedanken werden unwillkürlich langsamer, die aufgewühlte Stimmung wird einem großen Frieden weichen. Ohne große Worte. Es genügt ein Finger auf der Erde. Die Erde, so schon so viel gesehen, geschluckt, erlitten hat - wird zu einem stummen Zeugen. Dafür, dass heute keine Steine geworfen werden, dafür, dass sich die Ankläger trollen, dafür, dass die Frau neu leben kann.
Hartnäckig steht die Frage der Schriftgelehrten und Pharisäer im Raum. "Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?" Jesus richtet sich auf. Um dann zu sagen: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie." Dann bückt er sich wieder - und schreibt.
Was Jesus hier sagt, ist atemberaubend. Ein Satz genügt, um sozusagen die ganze Welt zu ändern: Wenn schon mit Steinen zu werfen ist - dann über und bei jeder Sünde. Sprich: kein Mensch könnte, dürfte noch leben. Auch die Schriftgelehrten und Pharisäer nicht. Den Gelehrten, die Sünden unterscheiden, die Sünden kategorisieren, die eine Hierarchie der Sünden entwickeln, wird der Stift aus der Hand genommen. Ob das Schreiben Jesu auf der Erde damit zu tun hat? Einen Aufschrei hörte ich nicht, aber ich sehe sie alle gehen - die gekommen waren, um die Frau zu steinigen. Denn: hier ist keiner ohne Sünde. Ich auch nicht.
Aufgerichtet
Der Evangelist geht mit einem Wort spielerisch leicht um. Das ist das Wort "aufrichten". Jesus ist gebückt, macht sich klein - und richtet sich immer dann auf, wenn er etwas Weltbewegendes zu sagen hat. Weltbewegend ist, dass Sünder keine Steine auf Sünder werfen, weltbewegend ist auch die Barmherzigkeit, die Jesus der Frau schenkt. In beiden Fällen wird im Evangelium Jesus aufrecht gezeigt, aufgerichtet: Er ist der Herr. Am Ende des Evangeliums heißt es: Er, Jesus, richtet sich auf und sagt: "Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!"
Die Geschichte, die Lebensgeschichte der Frau bleibt verborgen. Aber sie wird nicht gesteinigt. Ob der Weg aber in ihr altes Leben gelingt? Ob sie glücklich werden kann? Wird sie nicht gezeichnet, verwundet bleiben? Ich merke, wie schwer es ist, von Zukunft zu reden. Aber ich freue mich dann auch darüber, dass sie neu anfangen kann. Am liebsten möchte ich sie ein Stück begleiten. Auf ihrem Weg nach Hause.
Am Ende könnte untergehen, dass Jesus auch die Schriftgelehrten und Pharisäer aufrichtet. Er führt sie aus ihrer gesetzlichen Enge heraus und schenkt ihnen die Einsicht in die göttliche Barmherzigkeit, die immer schon da war, immer schon besungen wurde: "Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte." Das steht doch auch in den Schriften, auf die sich Schriftgelehrte und Pharisäer seit jeher beziehen.
Auffällig ist schon, dass in dieser Geschichte die Schriftgelehrten und Pharisäer ihr Fett nicht abbekommen. Sie können sich fast schon unmerklich und ohne Gesichtsverlust aus dieser Geschichte schleichen.
Ich wüsste gerne, was diese Geschichte, die im Evangelium erzählt wird, aus Schriftgelehrten und Pharisäern gemacht hat. Haben sie sich überzeugen lassen? Wurden ihre Urteile menschlicher, barmherziger?
Heute hören wir im Evangelium, dass Jesus sich aufrichtet, um Menschen aufzurichten.
Am frühen Morgen
Das Evangelium spielt an einem frühen Morgen. Ein neuer Tag beginnt im Tempel. Jesus wird von vielen Menschen umringt. Jesus unterrichtet sie. Dann kommen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie bringen die Frau mit, die sie ertappt haben. Früh am Morgen. Die Nacht ist kaum vergangen.
Aber Tag wird es, wenn Menschen neu leben können. Die Reporter, wären sie denn heute auch dabei, wüssten gar nicht, wo sie anfangen sollten, die Geschichte dieses Tages zu erzählen.
Klick, klick - ich bin gespannt, welche Fotos sie schießen!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.