Konfrontiert mit der "Welt"
Zu den Grundvollzügen eines christlichen Lebens gehört das Gebet, die persönliche Zwiesprache des glaubenden Menschen mit Gott. Wir bekommen heute einen tiefen Einblick in die innerste Beziehung Christi zu seinem Vater. Mich persönlich sprechen vor allem seine Bodenhaftung und sein realistischer Blick auf die sogenannte „Welt“ an. Denn in meinen eigenen persönlichen Gebeten bitte ich oft um eine „bessere“ Welt, in der alle Menschen gut und gerecht leben können, gleichen Zugang zu den materiellen und sozialen Gütern und ein Leben in Sicherheit und Frieden haben. Christus bittet aber nur darum, in dieser Welt vor dem Bösen bewahrt zu bleiben. Darüber möchte ich gerne mit Ihnen nachdenken.
Christus hat den Mut, die „Welt“ ganz realistisch zu betrachten: in der Welt können die Jünger und Jüngerinnen Christi schnell verloren gehen. Die Welt hasst die Jünger. Und: in der Welt ist das Böse allgegenwärtig. Wer will da widersprechen? Es stimmt ja: die Zahl derer, die mit den immer größer werdenden Herausforderungen ihres Lebens nicht mehr zurechtkommen, steigt rasant. Sie verlieren sich in der Welt, werden zunehmend orientierungsloser oder erkranken in ihrer Seele, weil alles zu viel für sie ist. Selten in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums wurden so viele Christen und Christinnen um ihres Glaubens willen verfolgt und getötet wie heute. Und - um das Wirken des Bösen in der Welt zu suchen, reicht der tägliche Blick in die Zeitung oder in die Nachrichtensendungen am Abend eines Tages.
In seiner Antwort auf diese Diagnose bietet Christus erst einmal nicht die beiden typisch religiösen Großfallen an: er frönt weder einem Ideal einer „Weltflucht“, sondern im Gegenteil: er bittet gerade nicht darum, dass wir aus der Welt genommen werden. Noch tut er so, als müssten wir nur genug Glauben haben, dann können uns die Widrigkeiten dieser Welt nichts anhaben. Sein Weg uns vor dem Bösen zu bewahren sieht anders aus.
Sich von Gott bewahren lassen
Vom christlichen Menschenbild lerne ich die Begrenztheit meines Lebens. Ich habe nicht nur einen biologischen Anfang und ein biologisches Ende, sondern bin auch sonst in meinen Fähigkeiten begrenzt. Zu dieser Begrenztheit gehört auch meine Fähigkeit zum Guten. Ich kann das Gute tun, werde aber durch die in mir wohnende Neigung zum Bösen immer wieder zurückgeworfen. Ich selber bin oftmals zu schwach, das Gute in dieser Welt zu tun. In dieser Erkenntnis finde ich einen ersten Hinweis zum Verständnis seines Weges. Denn zur Wahrheit meines Lebens gehört die Erkenntnis und die demütige Anerkennung: Allein schaffe ich das nicht. Ich brauche Hilfe. Er bewahrt mich im Guten, wenn ich selbst es nicht schaffe. Aber ich brauche den Beistand des himmlischen Vaters, um den Christus in diesem Abschiedsgebet bittet.
Er heiligt sich für mich
Hört sich zunächst sicher gut an. Spricht aber nicht der oben beschriebene Befund über den Zustand der Welt dagegen? Wie kann ich angesichts des Bösen in der Welt die Zusage Christi verstehen, sich für mich zu heiligen? „Sich heiligen“ bedeutet: „heil“ machen. Der Herr möchte die Gebrochenheit und Begrenztheit unseres Lebens heilen. Die Überzeugung, dass Jesus Christus durch seinen Kreuzestod die Macht des Bösen zur ewigen Vernichtung des Menschen besiegt hat, gehört zum Kern unseres Glaubens. Für den, der glaubt, hat der Tod - als Konsequenz des Wirkens des Bösen - keine Macht mehr. Er beendet das Leben nicht, sondern erweist sich als offenes Tor, durch das wir zum Leben in Fülle eingehen. Mit dieser Zusage lehrt uns der Herr einen neuen Blick auf die Welt: Ja, es gibt noch viel Unheiles in ihr. Als glaubender Mensch darf ich dies allerdings als letzte Zuckungen eines tödlich verwundeten Feindes wahrnehmen und nicht als machtvolle Taten eines vor Kraft strotzenden und immer noch so gut wie unbesiegbar erscheinenden Gegners. Ich lebe in einer zwar noch unheilen Welt, deren Geschichte aber gut enden wird.
Er sendet mich in die Welt
Und dann sendet er mich in die Welt: einen Menschen, der um seine Begrenztheit weiß und seine Anfälligkeit für das Böse kennt. Der sich aber gerade deshalb immer wieder demütig in die Gegenwart Gottes stellt, um sich von ihm bewahren und helfen zu lassen. Er sendet einen Menschen, der seine Augen vor der Realität des Bösen in der Welt nicht verschließt, der aber fest darauf vertraut und daran glaubt, dass das Böse tödlich verwundet ist und letztlich das Gute siegen wird. Er sendet mich als Zeugin / als Zeuge dieser Botschaft in die Welt.
Kann das gut gehen? Warum nicht? Ich freue mich immer wieder über die vielen Menschen, die trotz Gegenwind und Widerspruch zu ihrer Kirche und ihrem Glauben stehen: Ärzte, die ihre medizinischen Therapievorschläge nicht nur vom Budget und anderen Vorgaben abhängig machen, sondern sich am konkreten Patienten, seinen Ängsten und Bedürfnissen orientieren. Erzieherinnen, die den Kindern genug Raum und Möglichkeiten zum Entdecken ihrer individuellen Persönlichkeit geben. Mütter und Väter, die neben ihrem Beruf und ihren persönlichen Bedürfnissen, Ihren Kindern liebe- und verantwortungsvolle Eltern sind. Männer und Frauen, die in der Hospizbewegung sterbende Menschen und ihre Angehörigen begleiten und ihnen helfen, diesen letzten Weg gut bewältigen zu können. Katecheten und Katechetinnen, die sich in der Kommunion- oder Firmvorbereitung den Fragen und Zweifeln der Kinder und Jugendlichen stellen.
Ja, es gibt diese und noch viele andere Zeugen und Zeuginnen der froh machenden Botschaft, die Christus uns im heutigen Evangelium bringt. Menschen, die sich vom Herrn in die Kirche und in die Welt gesandt wissen und dort Zeugen dafür sind, dass das Böse und das Unheile in der Welt nicht das letzte Wort haben werden. Und da gibt es sicherlich auch noch einen kleinen Platz für mich und mein Zeugnis in der Welt.