Jesus erzählt eine Familiengeschichte. Drei Personen, die unterschiedliche Wege gehen, Schritte setzen. Voneinander weggehen, aufeinander zugehen. Wer ist am Ende der Verlorene? Die Geschichte bleibt offen. Die Erzählung ist zugleich eine Geschichte von leben und auferstehen, eine österliche Geschichte. Eine Geschichte, die sich in vielfacher Weise wiederholt; mit offenem Ausgang.
Familiengeschichte
Eine Familiengeschichte. Zumindest so schön wie die aus der Illustrierten. Nur nicht ganz so reißerisch und aufgeschäumt. Wie heißt sie noch mal? Diese Geschichte? Vom verlorenen Sohn? Passt – und passt nicht. Offen bleibt, wer denn der verlorene Sohn ist. Schade, dass keine Tochter mitspielt. Und die Mutter ist auch unsichtbar. Eine reine Männergesellschaft. Aber die hat es in sich! Starken Männern zum Trotz: sie ist zerbrechlich! Nein, sie ist schon zerbrochen. Ob es noch ein glückliches Ende gibt?
Jesus erzählt die Geschichte frommen Leuten. Sie verstehen nicht, dass sich Jesus mit Menschen abgibt, die doch, stadtbekannt, Sünder, Verworfene, Verlorene sind. Moralisch sowieso, aber auch sonst. Sie gehören nicht dazu. Sie werden auch nie dazu gehören. Nein, sie dürfen auch nicht dazu gehören. Niemals! Sonst geht unsere Ordnung vor die Hunde. Sonst verlieren wir unsere Identität. Sonst werden wir zu Fremden in unserer eigenen Welt. Neben der Angst schält sich der Übermut heraus, besser zu sein. Größer. Frömmer. Überhaupt: Wir wissen doch, was gut ist! Am Ende ist das Raster sehr klein. Viele Menschen fallen durch. Ist die Welt dann in Ordnung? Wieder in Ordnung?
Jesus liebt es, Geschichten zu erzählen! Schöne Geschichten! Man kann sich auf Anhieb mit den Figuren identifizieren, sie sind farbig und markant, dynamisch und umwerfend einnehmend. Ich habe mich schon dabei ertappt, wer mir am sympathischsten von den dreien ist: der jüngere Sohn, der ältere, schließlich der Vater? Ich werde jetzt nichts verraten. Noch nicht. Wetten, dass Sie Ihre Wahl auch schon getroffen haben? Sagen Sie nicht, Sie seien ratlos!
Dreier Schritte
Schauen wir uns einmal die Bewegungen an: Der jüngere Sohn, ohnehin nicht der Erbe des Hofes, lässt sich das Erbe auszahlen und zieht in ein fernes Land. Weit, weit weg von zu Hause. Nachdem er alles durchgebracht hat – wir können auch sagen: verspielt – wird er zum Schweinehüten geschickt. Nichts schlimmer als das. Für einen frommen Juden. Noch tiefer kann ein Mensch nicht fallen. Wir können jetzt unseren eigenen Vorstellungen freien Lauf lassen. Was das heißt, nicht tiefer fallen zu können. Dann aber bricht er auf. Aus diesem verkorksten Leben. Ich will zu meinem Vater gehen, sagt er – und sagt sich auf, was er sagen will. Eine richtige Litanei ist das. Ob er alle Worte mitnehmen kann? Ob es überhaupt einen Sinn hat? Doch: er bricht auf. Schon die Wortwahl ist klug und weitsichtig.
Dann kommt der Vater ins Spiel. Er bleibt nicht vor der Tür stehen, er geht auch nicht einfach – er läuft, er rennt ihm entgegen. Die Würde eines Vater weit hinter sich lassend. Das stinkende Etwas, das nach seinem Sohn aussieht, nimmt er in den Arm und küsst ihn ab. Der Kontrast! Man darf jetzt nicht nur den Augen trauen – man muss die Situation riechen. Mit allen Sinnen. Wie Schweine stinken…
Schließlich geht der ältere Sohn, der Bruder des zerlumpten Heimkehrers, nach Hause. Wie jeden Tag. Müde, erschöpft. Dann hört er die Bescherung, die Musik, die Feier. Überrascht lässt er sich aufklären. Sein Bruder sei heimgekehrt… Der Bruder? Der? Man spürt das Hörensagen, das aus der Ferne längst den Weg in die Heimat gefunden hat. So weit die Ferne war, so klein ist die Welt. Und was als Gerücht in die Welt gesetzt war, hat sich auf den langen Wegen verdoppelt und verdreifacht. Man spürt das Entsetzen und die große Fremdheit. Der ältere Sohn geht nicht weiter. Er geht nicht hinein. Er bleibt draußen.
Füße und Herzen
Diese Geschichte lebt von den Bewegungen. Von den Bewegungen der Füße. Gehen, geschickt werden, aufbrechen – nach Hause gehen, draußen bleiben. Doch der Vater, so weiß Jesus zu erzählen, geht hinaus. In diesem „hinausgehen“ öffnet sich das Herz des Vaters. Er rennt dem verlorenen Sohn entgegen – und er geht zu seinem älteren hinaus. Er lädt zur Freude ein. Zu der Freude, dass die Welt jetzt wieder in Ordnung ist, wo doch der verlotterte, der verloren gegangene Sohn wieder zu Hause ist.
Nicht einmal beiläufig, geradezu offensichtlich, entpuppt sich die Geschichte als eine Ostergeschichte: Dein Bruder war tot, jetzt lebt er wieder. Ob den Bewegungen der Füße die Bewegung des Herzens folgen kann? Der ältere, rechtschaffene, aber auch biedere Sohn – wird er mitfeiern? Seinem Bruder sein Herz öffnen? Sich seine Geschichte erzählen lassen? Es bleibt offen! Was bleibt offen? Ob er denn am Ende der verlorene Sohn ist, schärfer gefasst: der verlorene Sohn sein möchte! Der verlorene Sohn sein muss, um sich auf ewig abzugrenzen und in seinem Schmollwinkel häuslich einzurichten. Damit keine falschen Assoziationen aufkommen: Der jüngere Sohn ist ausgezahlt. Er kommt nicht als Erbe nach Hause. Er könnte seinem älteren Bruder nur zur Seite stehen. Immer zu seinen Diensten. Wer Herr im Haus ist, ist längst ausgemacht. Aber so weit reicht die Geschichte nicht. Wird der ältere Sohn sich mitfreuen können? Wenn der erste Ärger verraucht, die Überraschung verdaut, der Augenblick gerettet ist? Wer sich nicht mitfreuen kann, ist verloren. Eine feine Pointe! Eine große Überraschung! Die Geschichte vom verlorenen Sohn? Von welchem?
Verlorenheit
Bei Hausbesuchen, in vielen Gesprächen, selbst im Internet finde ich oft Geschichten von Verlorenheit, von verlorenen Menschen, von verlorenen Träumen. Manche Geschichte bleibt ein Leben lang offen, quält aber unaufhörlich, versteckt, totgeschwiegen. Oft erzählen Menschen davon, wie sie zu verlorenen Söhnen oder Töchtern gemacht wurden, dieser Rolle aber nie entfliehen konnten. Der barmherzige Vater, der in der Geschichte Jesu aus seiner Rolle als Vater fällt und auf seine beiden Kinder liebevoll zugeht, fehlt in vielen Geschichten, die angeblich das Leben schreibt.
Der ältere Sohn, der es gewiss nicht einfach hat, taucht in vielen Erlebnissen durch die Hintertür auf. In der Form von Rechthaberei, Überheblichkeit, vielleicht auch nur aus Stolz. Stolz, der willentlich abgrenzt, manchmal aber, ohne es zu wollen, verletzt. So verletzt, dass alle Worte sich in ein eisiges Schweigen zurückziehen. Es gibt dann ein Machtgefälle. Und die Angst, sich zu öffnen. Wie unglücklich werden Menschen, die sich nicht mitfreuen können – wie unglücklich machen sich Menschen! Wer sich und andere unglücklich macht, ist verloren. Nur unsere Masken und Fassaden erzählen die Geschichte anders.
Der Schweinehirt gehört nicht auf den roten Teppich!
In einer Gesellschaft, in der Leistung und Besitz definieren, was ein gutes Leben ist, hat der jüngere Sohn, der uns in der Geschichte begegnet, keine Chance. Der Schweinehirt gehört nicht auf den roten Teppich! Dabei gibt es bei uns viele Menschen, die auch in frommen Augen verloren sind, vielleicht ein Fall für die Fürsorge, für die Caritas, aber wir gehen ihnen nicht entgegen, nehmen sie nicht in den Arm, richten ihnen kein Fest aus. Die Einladungskarten drucken wir mit anderen Namen. Auch in unseren Kirchengemeinden gibt es unüberwindliche – oder unüberwindlich geglaubte – Grenzen. So lange wir unsere heilen Welten pflegen, sehen und riechen wir keinen Schmerz.
Jesus erzählt die Geschichte von der Verlorenheit als eine Geschichte der Barmherzigkeit. Der alte Vater geht seinen Söhnen entgegen. Was „jetzt“ ist, will er verbinden. Was „alt“ ist und gestern war, fängt er in seinen Armen auf. Weit über das Maß, das der Würde eines Vaters gemäß ist. Wer jetzt Gott im Spiel und im Spiegel sieht, bekommt einen neuen Blick auf alles, was verloren geht. Und freut sich, freut sich mit: Er war verloren und ist wiedergefunden worden!
Paulus hat das so formuliert:
"Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung:
Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden."
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Manfred Wussow (2007)
Johann Pock (2001)