Tiefen und Untiefen der Seele
Stärker könnten Gegensätzlichkeiten im Menschen nicht zum Ausdruck gebracht werden als es uns die Liturgie des heutigen Sonntags vor Augen führt: Das Hosanna und das Crucifige bezüglich ein und derselben Person, sowie an ein und demselben Ort, nämlich Jerusalem. Das Erschreckende dabei ist, dass beides so nahe beisammen liegt, zeitlich, aber auch im Inneren des Menschen selbst. Denn die Frage stellt sich ja in aller Eindringlichkeit: Waren diejenigen, die den Triumphzug Jesu mit Hosanna-Rufen begleiteten, nicht zu einem erheblichen Teil dieselben, die wenig später mit gleicher Lautstärke den Tod dessen gefordert haben (crucifige), dem sie kurz zuvor noch zugejubelt hatten?
Gott ganz annehmen
Wir erleben einen solchen radikalen Gesinnungswandel auch in der unmittelbaren Umgebung Jesu selbst, im Kreis seiner Apostel. Judas Iskariot war einer der von Jesus persönlich Auserwählten, und er war wohl, so wie die übrigen Elf, von Person und Botschaft dessen, der ihn in seine Nachfolge gerufen hat, ergriffen und begeistert, er hat gepredigt, Kranke geheilt wie die anderen und hat wohl auch die bergende Wärme der Gegenwart Jesu erfahren dürfen. Er hat wahrscheinlich ebenso wenig wie die anderen in der Jüngerschaft Jesu die Leidensweissagungen annehmen wollen. Da kam ein Knick in sein Bild vom Messias, in seine Gottesvorstellung. Einen Gott, der das Leid nicht nur nicht radikal beseitigt, sondern im Gegenteil selbst ein Leidender wird, den konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Er hat Gott gewissermaßen zur Verantwortung dafür gezogen, weil dieser nicht der war, den er haben wollte. Judas hat schon längst um ein Goldenes Kalb getanzt, das er sich selbst angefertigt hat. Steht Judas nicht stellvertretend für diejenigen, die "crucifige" geschrieen haben, weil sie einen solchen Messias nicht haben wollten?
Der unerkannte Gott
Der Mensch sieht sich immer wieder mit der Herausforderung konfrontiert, dass er sein Gottesbild korrigieren muss, dass er wie Mose vor dem brennenden Dornbusch fragen muss: Wer bist du? Und wie bist du? Trotz allem, was wir über Gott gehört haben, was er uns selbst geoffenbart hat, bleibt er doch der nie voll Erfassbare, er bleibt zu einem Teil immer auch der "Unbekannte Gott" von dem Paulus in seiner Rede auf dem Areopag spricht.
Die Zumutungen Gottes
Der leidende Gottesknecht, der leidende Menschensohn ist und bleibt eine Zumutung für unseren Glauben. Und trotz aller (vermeintlich) schon erworbenen Gläubigkeit müssen wir immer darum beten, dass Gott unserem Unglauben hilft, damit das Hosanna nicht zum Crucifige wird.