"Versuch in der Wahrheit zu leben" ist der Titel eines Buches von Vaclav Havel. Wie geht es uns mit diesem Versuch?
Vaclav Havel stellt diesbezüglich eine harte Diagnose: Viele Menschen leben nicht in der Wahrheit. Sie leben in der Lüge. Sie folgen nicht den eigentlichen Intentionen ihres Lebens, und sie halten sich auch nicht an ihr besseres Wissen und Gewissen, sondern lassen sich von anderen Kräften und Mächten bestimmen.
Wie kann uns der Glaube helfen, selbst in Wahrheit zu leben und unsere Mitmenschen in Freiheit und Wahrheit leben zu lassen?
Wir sollen uns immer neu in die Wahrheit einführen lassen.
In der Welt, in der wir leben, ist es nicht leicht, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden; die tieferen Intentionen unseres Lebens zu erkennen. Vieles ist uns verborgen. Wir stoßen mit unserer Erkenntnis an Grenzen.
Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen hat uns Jesus den "Geist der Wahrheit” verheißen, der uns in die ganze Wahrheit einführen soll. Es ist der gleiche Geist, der in Jesus wirkt, und der uns erfahren lässt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Es ist der Geist, von dem der Apostel Paulus sagt, dass er alles ergründet, auch die Tiefen der Gottheit. (Vgl. 1 Kor 2,10) Dieser Heilige Geist ergründet auch die Tiefen des Menschen. Wenn wir in der Wahrheit leben möchten, dann sollen wir uns von diesem Geiste leiten lassen.
Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns von diesem Geiste leiten lassen.
Der Apostel Paulus sagt uns dies mit großer Klarheit: "Der irdisch gesinnte Mensch lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen.” (1 Kor 2,14)
Wo die richtige Grundeinstellung nicht vorhanden ist, dort sind Erkenntnisse und Einsichten verschlossen.
Vaclav Havel drückt die gleiche Erfahrung in Form einer Frage aus: "Hängt nicht die Tatsache, dass sich die Anpassung an das 'Leben in Lüge' so allgemein und . so leicht verbreitet, mit der allgemeinen Unlust des Konsummenschen zusammen, etwas von seinen materiellen Sicherheiten zugunsten seiner geistigen und, sittlichen Integrität zu opfern?”
Der irdisch gesinnte Mensch, von dem Paulus spricht, und der Konsummensch sind geistig verwandt, beide tun sich schwer, sich vom Geist leiten zu lassen. Es fehlt ihnen die Antenne und die Kraft.
Wer sich vom Geist in die Wahrheit einführen lassen will, muss auch den Mut zu unangenehmen Wahrheiten haben.
Wir lesen im Evangelium: "Wenn er kommt - der Geist der Wahrheit - wird er die Welt überführen (und aufdecken), was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist.” (Joh 16,8) Der Heilige Geist deckt unsere eigene persönliche Ungerechtigkeit auf wie auch die Ungerechtigkeit in der Welt. Er gibt uns einen Blick auch für die strukturelle Sünde, für die Ungerechtigkeit der Mächtigen und Einflussreichen. Und beides ist unangenehm. Wir möchten lieber wegschauen, damit wir nichts unternehmen müssen.
Aber dieses Wegschauen widerspricht dem Leben in der Wahrheit. Wir brauchen den Mut, hinzuschauen, auch wenn wir bestimmte Dinge nicht verändern können. Ein Zeugnis für diesen Mut gibt Simone Weil:
"Ich begehre, ich flehe, daß meine Unvollkommenheit meinen Augen gänzlich offenbar werden möge, so weit der menschliche Geist dieses Anblicks fähig ist. Nicht darum, dass ich von ihr geheilt werde, sondern dass ich, selbst wenn ich von ihr nicht geheilt werden sollte, in der Wahrheit sei.”
Wir brauchen keine Angst vor der Wahrheit zu haben. Denn die Wahrheit wird uns befreien.
Auch diesen Gedanken finden wir beim Evangelisten Johannes. Die Wahrheit ist der Weg in die Freiheit; nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für das kirchliche und gesellschaftliche Leben. Die Wahrheit lässt uns nicht nur unsere persönlichen Fehler und die sündhaften Strukturen erkennen, sondern auch die eigentlichen Intentionen unseres Lebens. Sie will uns etwas begreifen lassen von den Tiefen Gottes und den Tiefen des Menschen. Der Geist der Wahrheit will uns befähigen, zu urteilen und in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben.
Von diesen Wirklichkeiten spricht auch der Apostel Paulus:
"Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen. Denn wer begreift den Geist des Herrn? Wer kann ihn belehren? Wir aber haben den Geist des Herrn.” (1 Kor 2,15)
Der Heilige Geist kann die Kleinen und Schwachen, die Mächtigen und Einflussreichen befähigen, in der Wahrheit zu leben und ihre Mitmenschen in der Freiheit und Wahrheit leben zu lassen. Trotzdem noch ein letzter Gedanke.
Das Eingeführtwerden in die ganze Wahrheit ist ein lebenslanger Prozess.
Wir vertragen nicht zu jeder Zeit die ganze Wahrheit. Jesus weist selbst darauf hin: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.” (Joh 16,12)
Es gibt bei dieser Einführung in die Wahrheit eine Pädagogik Gottes. Er lässt uns nach und nach so viel an Wahrheit erkennen, wie wir tragen können. Es gibt ein Wachstum in der Erkenntnis und auch in der Freiheit der Kinder Gottes.
Es ist ungemein wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen; für sich selbst und auch im Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Wir sollen diese Pädagogik Gottes wie auch seine Geduld nachahmen, um uns gegenseitig zu helfen, immer mehr in der Wahrheit zu leben und andere in der Freiheit und Wahrheit leben zu lassen.
Aus: P. Alois Kraxner, Wie Kristalle in taubem Gestein. Christsein im Alltag. Wagner Verlag, Linz 2008.
Christiane Herholz (2002)