Halbzeit
Das Evangelium des heutigen Sonntags steht, wenn man von der Kindheitsgeschichte absieht, genau in der Mitte des matthäischen Berichts über das öffentliche Wirken und Handeln Jesu. Es ist Halbzeit, könnte man sagen. Jesus hält inne und schaut mit den Jüngern auf das Vergangene zurück.
Viele Zeichen und Wunder Jesu haben die Jünger bisher erleben dürfen. Sie konnten sich im Zusammenleben mit ihrem Meister ein Bild von ihm machen. Seine Art des Lebens stand in einigen Punkten deutlich im Widerspruch zu dem, was die Schriftgelehrten und Pharisäer einforderten. Besonders die Hinwendung Jesu zu den allgemein Abgelehnten und Verkannten regte die Pharisäer immer wieder auf. "Warum lässt sich euer Meister mit diesen Menschen ein?", ist eine ständig wiederkehrende Frage der Schriftgelehrten und Pharisäer an die Jünger. Die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern hatte Jesus offen geführt. Die Argumente ihnen gegenüber standen den Jüngern damit für ihre eigene Beurteilung der Person Jesu zur Verfügung. So konnten sie sich ein klares Bild von ihrem Herrn und Meister verschaffen.
Bewunderung
Die Frage Jesu "Für wen halten die Leute mich, den Menschensohn?" zielt letztlich auf die Frage an seine Jünger: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" Diese Frage - auch an uns gestellt - trifft die Herzmitte eines jeden Menschen. Wer ist dieser Jesus für mich? In der Bibel finden sich drei Antworten auf diese Frage.
Für die meisten Pharisäer war Jesus eindeutig der, den es abzulehnen galt. Mochte er auch Aufsehen erregen, bei vielen Menschen beliebt sein, in den Augen der Pharisäer war Jesus nicht koscher. Ihm trauten sie keine Treue und Verbundenheit zum überlieferten Glauben zu.
Andere waren von Jesus beeindruckt. Sie brachten ihn in Zusammenhang mit Johannes dem Täufer oder den großen Prophetengestalten wie Elija oder Jeremia.
Wo die einzelnen Jünger innerlich standen, wird uns nicht genau berichtet. Lediglich von Petrus - und Matthäus lässt ihn wohl für die Mehrzahl der Jünger sprechen - wissen wir, dass ihm - und den anderen wahrscheinlich ebenso - inzwischen klar geworden war: Dieser Jesus ist der, für den er sich ausgibt: Zwar ganz ein Mensch wie sie und dennoch Gottes Sohn zugleich.
Sich an Jesus binden
Wer die Überzeugung des Petrus teilt und lebendig in sich trägt, hat nicht nur - wie Petrus - die richtige Meinung über Jesus; er bekennt sich damit auch zu einem besonderen Lebensstil, zu einem Leben unter der Leitung Jesu. Solange wir Jesus nur für einen berühmten Menschen halten, durchaus dem Täufer oder einem der großen Propheten vergleichbar, solange ist Jesus noch nicht voll in unser Leben eingetreten. Vielleicht bewundern, achten und schätzen wir ihn. Aber solange es nur bei der Bewunderung bleibt, fehlt das Entscheidende, das im Bekenntnis des Petrus mitschwingt: die tiefe innere Bindung. Mit Worten ließe sie sich etwa so ausdrücken: Du, Jesus, bist der, der meinem Leben Ausrichtung, Format und Stil gibt. Deine Lebensart soll meine Lebensart werden. Darum will ich ringen mit aller Kraft in mir. Genau um diese eindeutige Bindung geht es Jesus mit seiner Frage an die Jünger.
Die Antwort Jesu an Petrus - "Selig bist du, Simon; denn auf Menschen mit deinem Glauben und deiner Bereitschaft zu einer ernsthaften Nachfolge kann ich meine Kirche bauen" - ist eigentlich eine Antwort an alle Jünger und ebenso an uns. Wer mit Petrus Jesus als den "Sohn des lebendigen Gottes" bekennt und damit bekundet: "Ich will mit aller Kraft und Hingabe im Sinne Jesu Jünger sein", der ist - wie Petrus oder mit Petrus - Fels, auf dem Kirche Jesus aufgebaut werden kann.
Binden und lösen
Die Übergabe der Schlüsselgewalt an Petrus bedarf vielleicht noch einer Erklärung.
Die Schlüsselgewalt gab es schon im Judentum. Jesus wirft den Pharisäern ja wiederholt vor, dass sie durch ihr Verhalten für viele den Himmel verschließen. Welches Anliegen birgt also die Übergabe der Schlüsselgewalt an Petrus?
Gebote und Vorschriften der Israeliten hatten von Anfang an das Ziel, den Gläubigen Weisungen zu geben für rechtes und richtiges Verhalten. So gab es z.B. alle sieben Jahre das so genannte Sabbatjahr als Gebot und Vorschrift. Es besagte: Konnte ein Armer innerhalb der Zeit, die zwischen den Sabbatjahren lag, seine Schulden aus Armut nicht begleichen, so wurden sie im Sabbatjahr hinfällig und mussten nicht mehr zurückgezahlt werden. Dieses Gesetz war entstanden aus der Überzeugung: Das "gelobte Land" ist Eigentum aller Israeliten und nicht nur der Reichen und Wohlhabenden. Das Gesetz diente also dazu, Arme nicht gegen den Willen Gottes völlig verarmen zu lassen.
Dieses sehr soziale und von der Liebe getragene Gebot wirkte sich aber mit der Zeit in der Praxis für die Armen und Bedürftigen nicht vorteilhaft aus, wie es gedacht war, sondern eher verheerend. Denn viele Wohlhabende gingen dazu über, beim Herannahen des Sabbatjahres Armen kein Darlehen mehr zu gewähren. Das brachte die Bedürftigen erst recht in ausweglose Not.
In solchen oder ähnlichen Fällen, wo ein positiv angedachtes Gebot keinen Segen für die Menschen brachte, kam es den Schriftgelehrten zu, darüber zu entscheiden, in welcher Weise das Anliegen des Gesetzes zu verwirklichen sei: Sei es durch Auflösen oder aber durch Veränderung eines Gebotes. Die Rabbinen hatten also lösende und bindende Gewalt.
In diesem Sinne ist die "Binde- und Lösegewalt" zu verstehen, die Jesus dem Petrus übergibt. Er darf und soll für die Gemeinschaft der Kirche Gebote so aufschließen oder Verordnungen in der Weise bindend machen, dass sie den Menschen dienlich werden, Heil und Himmel zu erlangen. Immer sind Heil und Himmel beim Lösen und Binden das Ziel.
Zu einer Anwendung der "Binde- und Lösegewalt" kam es z.B. - so wird uns in der Bibel berichtet - auf dem ersten Apostelkonzil. Dort wurde entschieden, dass die Heiden sich nicht erst der Beschneidung unterziehen müssten, um Christen zu werden - den Heiden aber wurde auferlegt, beim gemeinsamen Mahl mit den Juden auf deren Vorschriften Rücksicht zu nehmen, damit jeder Anstoß oder Streit vermieden werde.
Ein festes Fundament
Bei einem Rückblick auf unsere bisherigen Gedanken werden zwei Anliegen des Matthäus deutlich, die er mit dem heutigen Evangelium verfolgt und uns nahe bringen will.
Ein erstes Anliegen besteht sicher darin, uns darauf hinzuweisen, dass ernsthafte Jüngerschaft Jesu nur möglich ist, wenn unsere Bewunderung Jesus gegenüber auch in eine solide Bindung an ihn einmündet. Nur wer sich mit seinem Denken, Planen und Handeln voll auf Jesus ausrichtet, wird zum Fels für die Kirche.
Das zweite Anliege des Evangelisten betrifft das Leben als Jünger Jesu. Es besteht im Binden und Lösen mit dem Ziel, Heil und Himmel zu erwerben. Jesus übergibt nicht nur Petrus Schlüsselgewalt, sondern für den Alltag und das tägliche Leben auch uns. Wo wir ehrlich und gewissenhaft das Gute für uns und andere anstreben, dort sagt der Himmel Ja zu unseren Entscheidungen. Jesus selbst ist für uns das beste Beispiel, wie wir handeln sollen. Er bindet sich total an die Liebe und löst Gebote oder Vorschriften dort auf, wo sie dem Wohl und Heil des Menschen entgegenstehen.
Binden wir uns fest und eng an Christus, nehmen wir uns ihn in seinem Verhalten zum Vorbild, dann werden wir mit Petrus und den Jüngern Fundament für die Kirche sein und - im Gegensatz zu den Pharisäern - uns und anderen Heil und Himmel erschließen.