Aufruhr und Gewalt
Dass ein Gottesdienst so ausgehen kann … Wir sind in Nazareth, in der Synagoge. Es ist Sabbat. Tag der Ruhe. Von Gott geschenkt. Aber am Ende steht ein Tumult. Steine werden geworfen. Gewalt entlädt sich. Ich suche die Schlagzeilen – und finde sie nicht. Dabei ist es die erste Predigt, die Jesus hält. Alle sind da – die Nachbarn, die Spielkameraden von einst, die Menschen, die hier leben. Sie kennen Jesus von früher. Was später gar als „Antrittsrede" hochgelobt wird, sorgt in dem Kaff aber für blankes Entsetzen.
Lassen wir uns die Geschichte von Lukas erzählen – wer am letzten Sonntag hier war, kennt den ersten Teil schon: "Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen. So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
»Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.«
Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt."
Heute...
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt, erfüllt vor euren Ohren (wie auch übersetzt werden kann).
Was ist erfüllt? Was erfüllt sich gerade? Schade, Lukas erzählt nicht die ganze Predigt – aber alles, was Jesaja gesagt hatte, wird jetzt auf den Punkt gebracht. In einem Satz.
Ein Gnadenjahr
Jesus ruft ein Gnadenjahr Gottes aus. Gnadenjahr, das ist wohl die größte Sehnsucht der Menschen. Auch wenn wir dieses – unscheinbare – Wort nicht mehr kennen. Wohl auch nicht kennenlernen möchten. Im alten Israel aber wurden Träume, Hoffnungen, Neuanfänge in diesem Wort aufbewahrt und weitergegeben. Das Gnadenjahr taucht sogar in alten Rechtstexten auf – mit dem Anspruch, Spruch des Herrn zu sein.
Die alten Schuldverhältnisse bestehen nicht mehr! Alte (Rechts)-Titel haben keine Verbindlichkeit mehr! Die Banken müssen bei Null anfangen! Alte Geschichten haben ein Ende! Alle Machtgefüge sind von gestern! Alle fangen noch einmal neu an: die Kleinen – und die Großen auch. Sogar die Natur kommt zur Ruhe. Die Erde atmet auf. In jedem 50. Jahr sollte das sein. Aber – das war von Anfang ein Traum, nur ein Traum. Und dann auch noch der Traum der Menschen, die ohnehin nichts hatten. Wer oben war, wollte nicht noch einmal anfangen, schon gar nicht ganz unten. Bis heute werden Vermögen vererbt, Reiche reicher – und die Schere von arm und reich wird für viele Menschen weltweit immer größer. Der status quo verträgt kein Gnadenjahr.
Ist es das, was Widerspruch erregt und in Hass umschlägt? - Wir sehen die Leute erregt aufspringen und Jesus durch ihr Städtchen treiben. Freiwild. An einem Abhang wollen sie ihn in die Tiefe stürzen. Aber Jesus geht einfach weg. Aber an diesem Morgen wird schon das Kreuz sichtbar, das Jahre später auf ihn wartet. Das Gnadenjahr fängt mit Gewalt an!
Gottes weites Herz
Fragen wir aber weiter, können wir der Predigt Jesu doch noch andere Seiten abgewinnen.
Jesus hat von dem weiten Herzen Gottes gesprochen: eigentlich müssten die Menschen die Geschichten kennen und lieben. Die Geschichte von der Witwe, die ihre letzten Vorräte zusammenkramt, sie mit dem Propheten Elia teilen will – und sich dann auf ihr Sterben rüstet. Es ist eine große Hungersnot. Und alle Hoffnungen sind aufgebraucht. Ende. Oder: die Geschichte von Naaman. Einem Syrer. Aussätzig. Aussatz ist schon schlimm genug, dabei Ausländer zu sein – noch aussätziger kann ein Mensch nicht werden. Aber der Prophet Elischa achtet nicht darauf. Er bringt – Heilung. Eine Perspektive. Einen neuen Anfang. Das ist Gottes Art, Gottes weites Herz. Eigentlich müsste das auch in Nazaret bekannt sein. Ist nicht immer schon aus der Schrift vorgelesen worden?
Die Witwe von Sarepta, der Syrer Naaman – sie könnten Sympathieträger sein. Leuchtende Vorbilder. Aber in Nazaret illustrieren sie nur, dass der Prophet nichts in seiner Heimat gilt. Jesus schlägt Unglauben entgegen. Später hat Jesus seinen Jüngern geraten, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie irgendwo mit ihrer Botschaft und ihrem Leben ins Leere laufen.
Die Liebe bahnt sich einen Weg
Ich wünschte mir, Lukas hätte mehr erzählt, die Leute befragt, diesen Sabbat – und diese Predigt - kommentiert. Aber das ist nicht seine Art. Indem er erzählt, lässt er die Geister aufeinanderprallen – und zeigt uns Gottes Reich. Auch im Widerspruch. Es ist der Anspruch Jesus, das letzte Wort zu haben, alte Verheißungen auf sich zu beziehen – und Glauben einzufordern. Der prophetische Text wird zum Fanal. Heute vor euren Ohren erfüllt? Vieles, womöglich alles steht zwischen den Zeilen. Ich muss schon gut zuhören.
Lukas erzählt:
"Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück.
Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend.
Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen".
Dass In Nazaret die Stimmung umschlägt, gehört eben auch zum Evangelium. Es ist die Heimatstadt Jesu. Aber Jesus geht – einfach weiter. Es ist, als ob die Liebe verstoßen wird. Sie bahnt sich aber einen Weg.
Messias – Christus
Jesus ist gesalbt – also – hebräisch - Messias. Griechisch: Christus. Wie passt das auf einen Handwerkersohn? Kennen ihn nicht alle? Messias! Christus! Den Armen wird eine frohe Botschaft verkündet. Evangelium! Die Gefangenen werden frei! Blinde sehen wieder! Zerschlagene werden frei! Ich wäge die Worte. Ich sehe eine neue Zeit anbrechen. Gottes Reich? Hier in Nazaret? In Nazaret! Und dann sagt Jesus: Ich rufe ein Gnadenjahr des Herrn aus, ein Gnadenjahr Gottes.
Was werden die Menschen in Nazaret wohl nach diesem Wutausbruch in ihrer Synagoge erzählt haben? Immerhin: an einem Sabbat. Den Tag Gottes. Mäuschen kann ich leider nicht spielen. Aber es werden wohl Gründe gesucht und gefunden worden sein – Gründe für die Ablehnung. Gründe für den Widerspruch. Gründe gar für den Hass. Menschen finden für alles Gründe. Wie lange tragen – gesuchte Gründe? Erinnerungen leben lange. Werden die Menschen in Nazaret mit ihnen lange leben können?
Liebe ist verletzlich
Die 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die kleine Gemeinde zu Korinth, einer bedeutenden und weltoffenen Stadt, beschreibt die Liebe. Nein, besingt sie. Es ist das „Hohe Lied der Liebe“. In hymnischer Sprache und mit geradezu himmlischer Melodie heißt es:
"Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand."
Die Liebe stellt sich nicht als Säule auf. Sie versteckt sich nicht hinter dicken Mauern. Sie lässt sich sogar an den Abgrund treiben. Die Liebe lässt sich enttäuschen. Sie ist verletzlich. Sie kann sterben. Wie Jesus. Aber sie geht nicht unter. Sie steht auf. Sie schlägt dem Tod ein Schnippchen. Sie nimmt ihm das letzte Wort. Und die Macht. Die Macht, vor der die Menschen kuschen. Was bleibt? Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
In Nazaret sehen wir sie: eine verletzliche Liebe. Aber sie wird sich nicht unterkriegen lassen. Sie geht – einfach hindurch. Und sie kommt wieder. Um Nazareth macht sie keinen großen Bogen. Sie rächt sich nicht. In alte Geschichten ist sie nicht verliebt. Das sind die großen Dinge, die in Nazareth passieren – und die Leute haben es nicht einmal gemerkt.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.