Ich weiß nicht, welches Schicksal härter ist: blind geboren zu sein oder durch eine Krankheit beziehungsweise durch einen Unfall erblindet zu sein. Heute wird durch vielerlei Hilfen blinden Menschen weitgehend ein selbstständiges Leben ermöglicht. Ja, ich staune sogar nicht schlecht, wenn ich höre, wie selbstständig blinde Menschen leben bei uns leben können, dass viele sogar in einer eigenen Wohnung zu Recht kommen. Zurzeit Jesu und auch heute noch in vielen ärmeren Ländern hat ein Blinder nur eine Möglichkeit, sein Leben zu fristen: indem er bettelt. Wie abhängig, wie hilflos waren und sind diese Menschen? Nicht nur das: Blind zu sein galt als Strafe Gottes für die Sünden.
Nun könnten wir Jesus hier wieder als den Wunderheiler preisen. Doch im Evangelium von heute ist gerade nicht das organische Sehen und Blindsein gemeint. Heute geht es um ein anderes Blindsein, um ein anderes Sehen lernen. Das merken wir an vielen Punkten dieser Geschichte: am Verhalten der anderen Menschen, an der Diskussion zwischen Jesus und seine Jünger, ob der blinde Mann oder seine Eltern gesündigt hätten, an dem Disput der Pharisäer mit dem jungen Mann, wer denn dieser Jesus ist, an den Aussagen Jesu über sich selbst, dass er das Licht sei.
Die Augen vor der Wirklichkeit verschließen
Was Johannes berichtet, erleben wir oft: Menschen können - oder mehr noch, sie wollen nicht sehen. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit. Wer versucht, eine Situation so zu sehen wie sie ist, der kann vor der Entscheidung gestellt werden, sein Leben zu ändern. Dem kann bewusst werden, wie falsch er bislang gedacht oder gelebt hat.
Der Blinde im Evangelium war von Geburt an blind. Auch wir sind - im übertragenen Sinn von Geburt an blind - das heißt: wir müssen im Laufe der Zeit sehen lernen, uns von Jesus die Augen öffnen lassen. Johannes möchte uns mit dieser Stelle eindeutig nahe bringen: der Glaube an Jesus und seine Worte kann uns heilen, kann uns die Augen öffnen für manches, was in unserem Leben vielleicht falsch läuft. Es kann uns auch die Augen öffnen für die Situation einer Gemeinde oder der gesamten Kirche und durchaus auch für die Situation der Welt.
Menschen, die nicht sehen wollen
Wo unser Glaube, unsere Liebe zueinander wächst, wo unsere Liebe zu Jesus wächst, dort werden wir unsere Welt, unsere Mitmenschen anders sehen lernen. Jesus schenkt uns Augen des Glaubens, Augen der Hoffnung und Augen der Liebe. Den Blick der Liebe konnten die Pharisäer nicht haben. Zu sehr waren sie davon überzeugt, die Wahrheit für sich zu haben. Sie haben Jesus nicht als Messias anerkannt. In dem Wort anerkannt ist ja auch erkennen enthalten. Die Pharisäer waren blind für Jesus, für das, wer und was er ist: der Messias. Es hätte ja auch ihre Bedeutung und ihre Stellung verändert. So sehen sie auch nur das, was sie sehen wollen. Sie verschließen die Augen vor dem, wer Jesus ist. So können sie gar nicht anders handeln. Sie wollen nur sehen, dass er am Sabbat heilt. Damit ist er für sie ein Sünder. Die Pharisäer stehen für die Menschen, die nicht sehen wollen, damit ihr Leben, in dem sie sich eingerichtet haben, nicht in Frage gestellt wird. Auch die Nachbarn und Freunde tun sich schwer zu glauben, dass ein Blinder sehend geworden ist. Einige bleiben skeptisch. Sie stehen für die Menschen, die sich schwer tun, Änderungen wahrzunehmen: nein eigentlich soll alles so bleiben wie es ist: die alten Rollen, auf die wir die Mitmenschen so gerne festlegen.
Jesus aber lehrt uns das richtige Sehen.
Wollen wir das auch? Wir stehen in der Fastenzeit. Durch manchen Verzicht wollen auch wir unsere Sinne schärfen, dass wir einen Blick dafür bekommen, was wirklich wichtig ist. Von was bin ich in unguter Weise abhängig? Uns kann eine immer größere Freiheit geschenkt werden. Uns wird neues Leben geschenkt.
Wer als Glaubender die Welt sieht, sieht die Welt, die Mitmenschen anders. So kann ich in jedem Mitmenschen jemanden sehen, der von Gott geliebt ist. Wie wäre es, das einmal sich auch zu denken bei Mitmenschen, mit denen ich mich schwer tue? Sehe ich in ihnen, dass auch sie von Gott geliebte Kinder sind. Damit ist nicht gesagt, dass es auch einmal Auseinandersetzungen geben kann. Doch wenn ich im anderen den Bruder oder die Schwester sehe und eben nicht den Feind, dann kann eine Auseinandersetzung vielleicht fruchtbar werden.
Mit den Augen der Liebe sehen, kann auch bedeuten: ich sehe einen Mitmenschen nicht nur in dem, was er mir persönlich nutzt, ich beurteile jemanden nicht nach Besitz, Intelligenz, Leistung, Können oder Position, ich versuche in jedem Menschen einen Wert zu entdecken. Als Student habe ich einmal eine Behindertenwerkstatt besucht. Der Leiter sagte mir: "Diese Menschen strahlen eine Fröhlichkeit aus, weil sie nicht diesen Druck haben. Behinderte Menschen können uns eben das lehren: Leben ist nicht bloß Leistung." Ein alter Mensch ist dann auch nicht einer, der nichts mehr leisten kann und zur Seite geschoben wird. Im Gespräch mit ihnen kann ich auch von deren Lebenserfahrung lernen. Umgekehrt kann auch ein älterer Mensch Neues im Umgang mit Jüngeren erfahren. Mit den Augen der Liebe sehen kann auch bedeuten, nicht bloß auf die Fehler zu schielen, nicht bloß auf das, was mir persönlich nicht passt, sondern mehr auf das Gute. Dann werden auch notwendige und berechtige Kritik anderen wirklich helfen und nicht zerstören oder klein machen.
Gott sieht auf das Herz
In der alttestamentlichen Lesung wird uns dazu gerade ein sehr gutes Beispiel gegeben. Da beruft der Prophet Samuel einen König für Saul. Nach und nach treten die Söhne des Isai auf. Doch die ersten sieben Söhne hat Gott nicht zum König berufen. Samuel erfährt: die Menschen schauen auf äußere Kraft, auf Stärke, auf Reichtum, Gott aber schaut auf das Herz. Weil nun Samuel ganz mit Gott verbunden ist, darum sieht er, worauf Gott sieht. So wird David berufen. Rein menschlich gesehen wäre er nie König geworden.
Was könnte in Kirche und Gesellschaft anders sein, wenn Menschen nicht nur auf das Äußere, auf die großen Worte achten würden, sondern mehr den Blick der Liebe wagen würden. Dieses Sehen meint sicher auch, dass die Kirche Gottes die Zeichen sehen lernt, die es in dieser Zeit zu sehen gilt.
Was sind denn die Zeichen unserer Zeit? Der Islam scheint immer stärker zu werden. Betrachten wir auch den Islam mit Augen der Liebe, dann sehen wir ihn nicht als Bedrohung, sondern wir spüren vielleicht: als Christen müssen wir uns mehr um unseren Glauben wieder bemühen, deutlicher als Christ/Christin leben. In den vielen Menschen, die dem Gottesdienst am Sonntag fernbleiben, sehen wir dann nicht bloß schlechtere Christen. Vielleicht haben sie nicht erkannt, wie wertvoll ein Gottesdienst ist, vielleicht haben sie oft wirklich andere Formen. Sicher sind auch sie eine Anfrage an uns.
Sehend werden
Ich glaube wir müssen noch viel mehr unsere Beziehung zu Jesus vertiefen, ihm öfters begegnen, das Gespräch mit ihm suchen, das Gebet, aber auch das konkrete Tun seines Wortes. Je mehr wir sehend werden durch IHN, durch seine Worte, umso mehr wird uns wirkliches Leben geschenkt. Jesus hat den Menschen in ihr Herz geschaut, dem Zöllner Zachäus zum Beispiel. Jesus ist das Licht der Welt. Auch mich und dich, jeden einzelnen will Jesus herausholen aus der Finsternis eines Lebens ohne ihn. Paulus schreibt an die Epheser, dass wir als Kinder des Lichtes leben sollen, dass wir Güte üben, dass wir die Gerechtigkeit, die wirtschaftliche und auch die Gerechtigkeit im Urteilen anstreben sollen, die Wahrheit erkennen sollen. Wo wir mit den Augen des Glaubens sehen, wo wir den Blick der Liebe üben, da werden wir Lichter in der Dunkelheit, da setzen wir Zeichen.
Jesus will unsere Blindheiten heilen. Es gibt eine Blindheit, die wir seit Geburt in uns tragen. Es gibt aber auch die Blindheit, die wir selbst verschuldet haben. Je mehr ich glaube, je mehr ich ihn erfahre, desto mehr werde ich von der Blindheit geheilt. Durch den Glauben lerne ich mit den Augen des Glaubens und der Liebe zu sehen.