Fragen nach der Zukunft unserer Kirchengemeinden
Seit vielen Jahren wird das Leben in unseren Kirchengemeinden sowie auf allen Ebenen der Kirche von der Frage nach der Zukunft bestimmt. Wie können wir angesichts der immer weniger werdenden Zahl von Priestern, aber auch der Abnahme der ehrenamtlichen Ressourcen in unseren Gemeinden die Kirche so gestalten, dass sie eine gute Zukunft hat. Dabei stehen oftmals strukturelle Fragen im Vordergrund: Müssen wir Gemeinden fusionieren, wie können Seelsorgeeinheiten oder pastorale Räume sein, dass sich dort noch einigermaßen sinnvoll kirchliches Leben entfalten kann? Wie sieht das zukünftige Rollenbild von Priestern und Gemeindemitgliedern aus? Welche Inhalte sollen zukünftig das Leben der Kirchengemeinden bestimmen?
Auf dem Hintergrund dieser und ähnlicher Fragen möchte ich das Evangelium des heutigen Sonntags betrachten. Es ist ein Abschnitt aus dem so genannten „Abschiedsgebet“ Christi. Unmittelbar nach den Versen, die wir eben gehört haben, beginnt mit der Erzählung der Verhaftung im Ölgarten die Passionsgeschichte. Interessant ist dieser Text deshalb, weil Christus hier für die zukünftigen Gemeinden betet. Also letztlich auch für uns.
Einheit, eine geistliche Wirklichkeit
Zwei Gedanken sind dem Herrn dabei wichtig: „Einheit“ und „Herrlichkeit“. Wir befinden uns bei der Entstehung des Textes noch in einem frühen Stadium der Christenheit, so dass „Einheit“ noch nicht die Einheit getrennter Christen meinen kann oder eine organisatorische oder institutionelle Einheit. Wenn Christus hier von „Einheit“ spricht, dann meint er damit eine geistliche Wirklichkeit. Diese Einheit gründet sich auf der Einheit zwischen Vater und Sohn. Glaubende Menschen erhalten von Gott her Anteil an dieser Einheit geschenkt. Diese innere Einheit zwischen Vater und Sohn auf der einen und uns auf der anderen Seite wird zum Kriterium dafür, dass die Welt Christus als den Sohn Gottes erkennen kann.
Das Verhältnis von Vater und Sohn ist davon geprägt, dass der Vater immer wieder neu Christus seine ganze Liebe schenkt, und Christus immer wieder neu diese Liebe empfängt und annimmt. Wenn wir als seine Jünger und Jüngerinnen Anteil an dieser Einheit haben, dann in der Weise, dass auch wir uns immer wieder neu Gottes Liebe öffnen, sie empfangen und annehmen.
Wie Gott mich liebt
Wie aber kann ich Gottes Liebe zu mir erkennen? Jedes menschliche Leben ist eine Einheit aus Leib, Geist und Seele. Während Geist und Leib sich biologisch entwickeln, ist die Seele eine Gabe Gottes an jeden Menschen. Sie ist ein Zeichen dafür, dass Gott mich will und liebt. Wie erkenne ich Gottes Liebe? Dadurch, dass es mich gibt.
Wie schön ist es, dass wir Menschen unterschiedlich sind, unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten haben. Diese Gaben unterstützen den Selbstentfaltungsprozess jedes Menschen. Ich werde zudem, was ich bin, durch die Gaben, die ich habe. Wie erkenne ich Gottes Liebe? An den Gaben und Fähigkeiten, die er mir für mein Leben geschenkt hat, damit mein Leben gelingt.
Schon auf den ersten Seiten der Bibel lese ich davon, dass es nicht gut ist, wenn der Mensch allein ist. Deshalb gibt er dem ersten Menschen eine Gefährtin an die Seite. Als Pfarrer erlebe ich die Einsamkeit vieler Menschen als große Herausforderung. Oftmals ist es gar nicht die Krankheit, die Arbeitslosigkeit oder ein anderer Schicksalsschlag, die Menschen so schwer zu schaffen machen, sondern das „allein sein“ mit dieser Situation. Wie erkenne ich Gottes Liebe? Dadurch, dass es Menschen an meiner Seite habe, die mich lieben, die meine Freunde sind.
Dort, wo es mir gelingt, solche Erfahrungen als Gabe Gottes an mich zu empfangen und anzunehmen, gewinne ich immer größeren Anteil an der Einheit, die zwischen Christus und seinem Vater ist. Je mehr Menschen sich als von Gott Beschenkte erleben, können sie leichter einen Zugang zu dem großen Geschenk Gottes an die Menschen bekommen: seinem Sohn Jesus Christus.
Die Herrlichkeit Christi erkennen
Das zweite wichtige Stichwort des Herrn ist der Begriff der „Herrlichkeit“! Er bittet für die zukünftigen Gemeinden darum, dass sie die Herrlichkeit sehen, die der Vater dem Sohn gegeben hat. Diese Herrlichkeit Christi zeigt sich aber erst am Kreuz. Dieser Moment der absoluten Ohnmacht, des Ausgeliefert Seins und Sterbens am Kreuz ist die Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes. Denn nur so konnte Christus hinabsteigen in das Reich des Todes, um den Stein, der seit der Vertreibung Adams und Evas das Paradies verschlossen hielt, wegzurollen. Das Tor zum Leben steht wieder offen. Wir können zurückkehren an den Ort, für den Gott uns geschaffen hat.
Dies verändert unseren Blick auf das Leid, den leidenden Menschen. Wenn Christus sein Leben gegeben hat, damit wir leben können, gehört es zum Wesen der kommenden Gemeinden, denen zu helfen und ihnen Leben zu ermöglichen, die leiden und die kleinen Tode des Lebens sterben müssen.
Einheit und Herrlichkeit
Ohne den gleichzeitigen Blick auf die Herrlichkeit des Sohnes, wäre das Bedenken der Einheit nur eine Selbstbespiegelung: „Ach wie gut meint es doch Gott mit mir!“ Das Empfangen der Liebe Gottes und die Teilhabe an der Einheit zwischen Vater und Sohn führt zum Schauen der Herrlichkeit des Sohnes und damit an die Seite der Armen unserer Zeit.
Ausgangspunkt unserer Überlegungen waren die Veränderungsprozesse unserer Gemeinden, in denen wir stehen. Können die Bitten des Abschiedsgebetes Jesu für die zukünftigen Gemeinden dabei helfen? Christus hilft uns mit seinen Bitten auch heute: indem wir uns immer wieder neu der großen Gaben Gottes bewusst werden, die er uns immer wieder schenkt, sie annehmen und zur Entfaltung bringen, haben wir Anteil an der Einheit zwischen Vater und Sohn. Sie lehrt uns den Blick auf die Herrlichkeit des Sohnes, die sich am Kreuz offenbart und uns an die Seite der Kleinen und Armen unserer Tage stellt. So kann die „Welt“ erkennen, dass Christus vom Vater gesandt wurde - zu unserem Heil.