Eine Abschiedsrede
Wir sind heute Zeugen einer wohl einmaligen Situation. Live sind wir dabei. Jesus hält seine Abschiedsreden. Er wird gehen. Gehen müssen. Wir bleiben alleine zurück. Nur noch kurze Zeit - sagt Jesus, und die Welt sieht mich nicht mehr, ihr aber - sein Blick ruht auf den Jüngern - ihr aber seht mich. Befangen, traurig fragen wir, wie das gehen soll. Manchmal fühlen wir uns richtig alleingelassen. Mit kritischen Rückfragen, Krisen und Resignation. Mit Machtansprüchen, Rangeleien und verwirrender Vielfalt. Wir sehen an vielen Stellen ein Durcheinander. Wir wünschen uns Klarheit. Wir sehnen uns nach einem starken Glauben. Wenn ER uns doch nur sagen würde, wie wir alles bewältigen können! Aber wenn er geht und uns alleine lässt? ... Wir merken jetzt nicht einmal, dass wir einen anderen, tieferen, weiteren Blick geschenkt bekommen.
Abschiedsgeschichten
Ich muss jetzt an Abschiede denken. Ein Bahnsteig. In wenigen Minuten fährt der Zug ein. Zwei junge Menschen halten sich fest, wollen nicht von einander lassen. Er fährt an seinen Studienort, sie bleibt zurück. Die Trennung scheint ewig. Sie schenkt ihm ein Bild. Ihr Bild. So wird sie immer bei ihm sein. Ihn ansehen. Ihn anlächeln.
Szenenwechsel. Der Kollege geht in den Ruhestand. Was man ihm schenken kann, bewegt viele. Sogar über lange Zeit. Dann wird die Idee geboren: wir schenken ihm ein Album. Mit Erinnerungen gemeinsamer Zeit. Mit Momentaufnahmen. Mit Gesichtern. Noch persönlicher geht es nicht. Wann, wie oft, wie gerne er in dem Album blättern wird? Schön ist es, einfach da zu sein, ohne aufdringlich zu werden. Eine neue Situation - eine neue Offenheit.
Ein letzter Blick: Menschen kommen von einem Grab. Sie haben die Mutter auf ihrem letzten Weg begleitet. Es ist alles noch so frisch! Sie reden miteinander. Sie spüren die Zäsur. Ihr Lebensweg geht weiter. Morgen schon wird wieder Alltag sein. Zu Hause haben die Kinder ein Bild der Mutter auf den Schrank gestellt. Was sie gesagt und getan hat, wer sie war, was sie wollte - ist in ihren Zügen lebendig. Manchmal ertappen sich die Kinder dabei, wie sie mit ihrer Mutter reden - und tatsächlich eine Antwort bekommen!
Jeder, jede von uns kann Abschiedsgeschichten erzählen. Nicht alle Abschiedsgeschichten gehen gut aus. Es gibt Abschiede, die Wunden zurücklassen. Womöglich mit ungestilltem Hass, ungeklärter Angst, unheilbarer Verlorenheit. Das Gras wächst nur langsam auf diesen Abschieden. Aber irgendwann wagt sich ein Gänseblümchen hinaus ...
Abschiedsgeschenke
Habt ihr die Worte des Evangeliums noch im Ohr? Was Jesus zu seinem Abschied sagt, bringt uns tatsächlich auf neue Gedanken.
Er lässt uns sein Gebot! Er verheißt uns seinen Geist! Er nimmt uns in sich auf, in sein Herz!
Am Ende - Jesus sagt das in seinen Abschiedsreden ganz unverhüllt -, ist es sogar gut, dass er geht! Wir haben Frei- und Spielräume! Uns wird ein ungeheuer großer Vertrauensvorschuss gewährt! Er traut uns zu, sein Wort zu bewahren!
Worte
Entschuldigung, ich bin viel zu schnell. Es geht doch darum, seine Gebote zu halten, sie mit Liebe zu halten. Eine andere Form, ihn zu lieben, zeigt er uns nicht. So schön es ist, ihm in Gedanken ein Ehrenplätzchen einzuräumen - unsere Gedanken sind ihm zu klein. So schön es ist, ihm Liebeslieder zu singen - ihm sind unsere Töne zu wenig. So schön es ist, sich nach ihm zu nennen - ihm sind unsere Bezeichnungen zu eng.
Sein Gebot ist ohnehin in wenigen Worten auszudrücken: es ist das Gebot, einander lieb zu haben. Wenn er noch bei uns wäre: Würde er uns etwas anderes sagen? Mehr? Besseres? Aber: Gibt es denn etwas Anderes, Größeres, Besseres? Als Liebe? Sein ganzes Leben und Sterben ist Liebe. Seine Liebe überwindet die Welt - und den Tod. Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben lässt für seine Freunde. Für seine Freundinnen. Sagt er. In seinem Gebot ist sein Leben, seine Zukunft, unsere Zukunft bewahrt.
Darum sagt Jesus: Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Schön formuliert: werdet ihr ... Er ist sich da sehr sicher. In seiner Abschiedsrede. Jesus vertraut uns sein Gebot an - als würde er sich uns selbst anvertrauen. Ganz und gar. Auf Gedeih und Verderb.
Mir kommen jetzt wieder die Beispiele in den Sinn. Die Beispiele mit dem Bild zum Abschied, dem Album als "Andenken" an die gemeinsame Zeit - und dem Bild, das sozusagen stellvertretend für jemanden steht, der nicht mehr da ist.
In seinem Gebot schenkt uns Jesus sein Bild, eine gemeinsame Zeit und seine lebendige Gegenwart.
Beistand
Obwohl Jesus von seinem Abschied redet, entdecke ich bei ihm eine große Fürsorge. Er lässt uns nicht nur sein Gebot, sondern schenkt uns auch einen Beistand. Also einen, der uns gerade nicht allein lässt, sondern mit uns geht, uns ermutigt, uns aufrichtet. Wenn wir jemanden brauchen: dann ihn. Während "Beistand" männlich formuliert ist, trägt der Geist weibliche Züge. Dabei ist es ein Wort. Ruach! Lebenspendender, schöpferischer Geist. Er gibt der Welt ein neues Gesicht. Er war auch schon am Anfang der Welt da. Weise und liebevoll.
Von ihm wird erzählt, dass er selbst kleine Leute über sich hinauswachsen lässt. Dass er schweigsame Menschen mit Worten überfüllt. Dass er mutlose und verzagte Menschen die Welt verändern heißt. Die Verheißung beim Propheten Joel sprengt alle Beschreibungen: alles Fleisch wird förmlich überschüttet. Auch "Jünglinge" und "Greise". Auch die, die noch nichts oder nichts mehr zu sagen haben. Auch die Anfänger und Abgehalfterten. Bei Gott: die Großen werden klein. Ich freue mich schon, in wenigen Tagen, an Pfingsten zu hören, dass der Geist wie Sturm und Feuer ist, mitreißend und ansteckend. Ehrlich gesagt: wenn Jesu Gebot unter uns lebendig bleiben soll, brauchen wir einen Beistand, der seine Liebe bei uns, unter uns - mitreißt und ansteckt. Mit den Worten des Evangelisten: wir verwaisen nicht!
Als ich vorhin die Beispiele aus dem Leben erzählte, kam - unausgesprochen - eine alte Weisheit zum Vorschein: Bilder scheinen zwar einen Moment festzuhalten, ihn gar zu konservieren, aber Bilder lassen ganz neue Geschichten entstehen. Was würde er, was würde sie denn jetzt tun? Raten? Im Gespräch wachsen auf einmal - Neuanfänge. Bilder lösen sich von Erinnerungen und bescheren uns neue Begegnungen. Dann können unsere Herzen sogar klingen. Und ganz weit offen sein.
Jesus verabschiedet sich nicht einfach von uns: er schenkt uns ganz neue Erfahrungen. Auch neue Erfahrungen mit uns. Seine Liebe trägt uns, sie entfaltet uns, sie deckt ungeahnte Seiten auf. Allein sind wir nicht.
In ihm
Wir sind heute Zeugen einer wohl einmaligen Situation. Live sind wir dabei. Jesus hält seine Abschiedsreden. Er wird gehen. Gehen müssen. Aber wir haben einen festen Platz in seinem Herzen. Wir werden immer in sein Herz schauen, wann immer wir ihm nahe sind. Wir sind untrennbar mit ihm - glücklich.
Ein bisschen verwundert bin ich jetzt schon: Einen so großen Vertrauensvorschuss habe ich nicht erwartet. Ich will sein Vertrauen nicht enttäuschen. Sein Gebot habe ich. Seine Verheißung auch. Komm, Heiliger Geist - und kehre bei uns ein!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne,
in Christus Jesus,
unserem Herrn.