Rückschau
Zum Jahresende lade ich zu einer Rückschau ein, eine Rückschau, die zugleich neue Perspektiven eröffnet. Diese Rückschau beinhaltet Schlüsselstellen aus dem Gespräch, welches Jesus mit der Samariterin geführt hat. Es sind jene Stellen, die uns alle einladen, auch im kommenden Jahr weiter darüber nachzudenken. Am Schluss der Rückschau erfahren wir vom Beginn einer Lebenswende, einer neuen Zeit im Leben dieser Samariterin.
Vielleicht sind am Beginn der Rückschau zum besseren Verständnis folgende Fragen hilfreich: Welche Gespräche haben auf Grund ihrer zuversichtlichen, hoffnungsvollen Worte ungeahnte Wendung in unserem Leben ausgelöst? Was nehmen wir persönlich von diesen Worten, Gesprächen mit in das „Neue Jahr“? Werden diese uns weiter beschäftigen, bzw. anregen sich mit dem Gespräch auch im kommenden Jahr auseinanderzusetzen, weil sie dem Leben mehr an Fülle und Sinn geben können?
Gespräch am Jakobsbrunnen
Von so einem Gespräch, das zum Nachdenken anregt, erzählt der Evangelist Johannes. Es ist ein sehr langes Gespräch zwischen einem Mann aus Galiläa und einer Frau aus Samarien. Dieses Gespräch ist bis auf den heutigen Tag noch nicht „ausgeredet“. So können und dürfen wir es fortsetzen, denn das, was das Gespräch ins Rollen gebracht hat, betrifft auch unsere heutige Gesellschaft.
Also beginnen wir mit dem, was der Mann aus Galiläa von der Frau aus Samarien mit folgender Bitte fordert: „Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken!“ - Was haben diese Worte bei der Samariterin ausgelöst? Wahrscheinlich, nein sogar sicher, wie wir im Verlauf des Gespräches noch erfahren werden, eine zu tiefste Erschütterung in ihrem Frauenrollenbild aus ihrer Volksgruppe der Samariter! - Wieso das?
Jesu Verhalten, so nehmen wir an, entspricht doch dem von Männern geprägten Rollenbild der Frauen in der damaligen Welt und, salopp festgestellt, oft auch noch heute.
Was ist daran so „aufregend“, dass diese Szene am Brunnen im Evangelium zu den Schlüsselstellen gehört?
Dazu müssen wir noch ein zweites – damals - festgefahrenes Rollenbild bedenken: Es ist jenes zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei Religionsgruppierungen, zwischen zwei verschiedenen Regionen in einem Land.
Die Antwort der Frau, etwas aussagekräftiger formuliert als von Johannes, könnte auch so lauten: „Wie, du, ein Jude, verlangst von mir zu trinken, von einer Samariterin?“ In dieser Formulierung kommt das Entsetzen, das Erstaunen der Frau stärker zum Ausdruck. Durch die Frage Jesu wird sie in ihrem Selbstbewusstsein, das ganz und gar darin besteht, eine Samariterin zu sein, aus ihrem Lebenskonzept gebracht.
Aus der Rolle fallen
Dass Jesus durch seine Bitte an diese Frau aus der üblichen Rolle eines Mannes aus dem Judentum fällt, ist in dieser Perikope gewollt. Eigentlich fällt „er“ nicht aus der Rolle, sondern Jesus spielt einfach nicht die Rolle, die die Frau von ihm erwartet hat. Dadurch ist sie verunsichert, verwirrt. Dazu sei bemerkt, dass auch sein Jüngerkreis vom „nicht in eine Rolle gezwängtem Verhalten“ Jesu oft genug verwirrt wurde.
Diese provokante Einleitung zu dem Gespräch am Jakobsbrunnen, bei der Jesus, als männlicher Teil und die Samariterin, als weiblicher Teil, war durch diese alten fixierten Rollenbilder zwischen Mann und Frau und hier konkret noch zwischen Samaritern und Juden möglich. Und: Frauen sind – das ist das gängige Bild über Frauen in der Gesellschaft - entsetzt, werden erschüttert in ihrem Selbstbewusstsein, Männer jedoch fallen gezielt oder spontan „nur“ aus der Rolle. Diese alten Denkstrukturen über Frau und Mann werden geschickt aufgegriffen und in ein Angebot neuen Lebens verwandelt!
Dazu ist ein wesentlicher Schritt der Frau, der Samariterin, als Reaktion auf die Aktion Jesu notwendig. Dieser Schritt wird ihr ermöglicht, weil Jesus ihn selber getan hat: er ist aus der kollektiven Lebensform heraus gefallen.
Der eben erst ungewöhnliche Gesprächsanfang hat eine Fortsetzung: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Mit diesen Worten fällt Jesus buchstäblich mit der Tür ins Lebenshaus der Frau. Dieses Lebenshaus wurde und wird auch heute noch geformt, geprägt und gebildet von dem Rollenverständnis einer Frau in ihrem gesellschaftlichen Zuhause.
Wie kann man sich so verhalten, so eine schroffe, radikale Aussage machen gegenüber einer Frau, die eben in ihrem Selbstbewusstsein erschüttert worden ist? Statt Wasser wird jetzt von der Gabe Gottes gesprochen, die es für die Frau zu erkennen gibt. Hier beginnt eine Umkehrung der Verhältnisse, beginnt der Bruch mit einer Tradition, die meist keinen Raum, keinen Platz der Veränderung, sprich Entwicklung vorsieht.
Diese Stellen sind jedoch nur der Anfang des Gespräches zwischen der Frau und Jesus am Jakobsbrunnen. Der weitere Gesprächsverlauf dauert lange, wir haben es gehört. Die Frage drängt sich auf: Kann sich der Evangelist nicht kürzer fassen und gleich sagen, auf was er hinaus will? Wozu diese langatmige Erzählung, so umständlich, so verwirrend, mit so vielen Unklarheiten?“ - Nein, ein klares Nein! Der Evangelist kann sich – als guter Erzähler – in diesem Fall nicht kürzer fassen und dieses Gespräch muss unbedingt Platz für „Umwege“, für Klarstellungen und Zeit haben. Zeit haben für ein Gespräch, das nachhallt, das Wirkung zeigt, ist noch immer wichtig! Der Prozess der Offenbarung, welche hier ein „Angebot neuen Lebens“ verkündet, ist keine Blitzaktion. Das Gespräch zeigt durch und in seiner Länge auf, dass es nur Schritt für Schritt in der Seele eines Menschen Entwicklung gibt, egal ob Frau oder Mann.
Lebensumschwung
Neue Orientierungspunkte muss in dieser Begegnung die Samariterin setzen: es geht nicht um die Gabe von ihr, sondern von ihm. Das verwirrt sie. In dieser Verwirrung spricht sie das an, was sie zu verstehen meint: das Wasser, das lebendige Wasser, das er ihr geben will. - Aus dem Brunnen da? Nein, geht nicht, der ist zu tief. Dann bleibt nur zu fragen: „Woher hast du also das lebendige Wasser?“
Langsam merken auch wir als Zuhörer/in, dass hier immer nachgefragt wird, dass hier Dinge offen sind, die zum Nachdenken anregen. Diese laden die Frau ein, den nächsten Schritt zu wagen, die eigene religiöse Herkunft, die eigene Quelle ihres Volkes zu hinterfragen: „Bist du etwa größer als unser Vater Jakob?“
Ob die Frau nun alles in Frage stellt, was ihr Leben, ihre Tradition betrifft, bleibt offen, aber dass sie ihr Leben zu hinterfragen anfängt, ist außer Zweifel. Und dies am Ort, dem Jakobsbrunnen, der die Quelle ihres und ihres Volkes Leben ist. Großartig und einmalig, was hier im Evangelium in einem „einfachen“ Gespräch erzählt wird. Langsam, in vielen kleinen Schritten ahnt sie, dass sie jemanden begegnet ist, der ihr neue Lebensquellen erschließen kann, dass er, bildlich gesprochen, einen neuen Brunnen baut, von dem sie und auch ihr Volk, die Samariter, leben können.
Eine neue Lebensquelle
Zu welcher Tageszeit lässt Johannes dieses Gespräch führen? „... denn es war um die 6. Stunde!“
Es war also Mittag. Hören sie die „inneren“ Glocken klingen? 12 Uhr, die Tagesmitte, für die Samariterin ist dies die Lebensmitte, konkret: eine Lebenswende! Im Gespräch hält sie Rückschau auf ihr vergangenes Leben. Doch die Erfahrung der Offenbarung lässt sie nun in die Zukunft blicken. Eine neue Lebensquelle in der eigenen Seele, der Ort der Gottesbegegnung, hat sie durch Jesu Zuwendung erfahren.
Nicht die Tagesmitte wird heute um Mitternacht verkündet, sondern ein neues Jahr. Mögen sich im kommenden Jahr für uns eine Fülle von Quellen des Lebens erschließen, die uns hoffen lassen und uns auf dem Weg in eine friedvolle Zukunft stärken.
Anmerkung:
Die Szene „Die Samariterin und Jesus am Jakobsbrunnen“ ist ein sehr beliebtes Darstellungsmotiv in der Kunst. Eine wunderbare szenische Darstellung ist in der Kunstkammer des KHM in Wien zu sehen: „Jesus und die Samariterin am Jakobsbrunnen“, als Andachtsbild, hergestellt im Pietra-dura-Verfahren, Florenz, Ende 16. Jhd., die Bildmitte von Christofano Gaffuri.
Foto: 10. Feber 2016, eigene Fotografie, Werner Stumpner.