Vor Sonnenaufgang
"Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war." So beginnt eine Geschichte, die aus dem Leben gegriffen sein könnte. Aus unserem Leben. Wir sehen eine Frau, einsam und verlassen. Sie hat eine schreckliche Nacht hinter sich. Ihre Gedanken drehen sich, überschlagen sich, kommen nicht zur Ruhe. Noch bevor die Sonne aufgeht, macht sie sich auf den Weg. Sie geht zum Friedhof. Zum Grab Jesu. Mit ihren Erinnerungen, mit ihrem Herzeleid ist sie allein. Wie schnell alles ging! Vorgestern erst gab es den (Schau)Prozess, dann das Todesurteil, schließlich die Hinrichtung. Warum? Maria von Magdala weiß sich nicht zu beruhigen.
Immer wieder erzählen wir Menschen Geschichten, die hilflos um die Frage "warum" kreisen. Es ist die älteste Frage der Welt. Antworten entziehen sich, kaum, dass man es mit ihnen versucht hat. Die Gedanken werden schwer. Sie drehen sich im Kreise. Es ist, als ob ein großer Stein auf dem Herzen liegt. Maria von Magdala ist in ihrem Schmerz nicht allein - sie hat viele Gefährtinnen, viele Gefährten. Sogar unter uns. Aber an diesem Morgen sind ihr die anderen Menschen fremd und weit weg.
Frühmorgens, als es noch dunkel war, kam Maria von Magdala zum Grab.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen...
Alles ist in Bewegung
Ich freue mich, dass der Evangelist Johannes wissend und liebevoll auf Maria Magdalena schaut. Einen Menschen muss es geben, der Gedanken lesen und Stille aushalten kann. Einen Menschen! Heute schlüpft Johannes in diese Rolle. Er fühlt mit. Er schenkt uns aber auch einen Blick auf das Leben, das sich uns oft genug entzieht. Er sieht mehr.
Johannes fängt an, zu erzählen. An diesem Morgen geht Maria nicht nur zum Grab, an diesem Morgen laufen die Jünger um die Wette. Der schwere Stein ist weggerollt, das Grab ist leer. So entsetzlich der Tod ist - der Gedanke, dass der Tote weg ist, ist noch entsetzlicher.
Ich denke jetzt an die Menschen, die immer noch nicht wissen, wo die Unglücksmaschine untergegangen ist. Die nicht wissen, wo die Menschen sind, die sie vor Wochen zuletzt gehört, zuletzt gesehen haben. Die jetzt vor der Frage stehen, einen Menschen für tot zu halten - und zu erklären.
Diese Geschichte hat es in die Pressemitteilungen und Nachrichten geschafft. In vielen Geschichten aber verschwinden Menschen ohne Namen und ohne Erinnerungen. Im Tod sind nicht alle Menschen gleich. Nicht einmal im Tod.
Das Grab ist leer
Der Stein sollte wohlweislich das Grab verschließen. Für immer. Schwer, massiv, aus einem Stück. Er trennt die Welt der Lebenden und der Toten. Menschen haben diese Trennung immer schon bitter und traurig erfahren. Aber die Welt war in Ordnung, solange man wusste, wo der Mensch war, den man liebte (oder auch - und unter uns: den man hasste). Aber jetzt? Der weg gerollte Stein gibt auf einmal ein Loch frei, lenkte Blicke und Sinne in die Welt dahinter: die Leinenbinden einfach abgestreift, das Kopftuch fein säuberlich zusammengelegt in einer Ecke. Johannes lässt das Licht in die Höhle fallen, ohne Angst, überrascht zu werden. Was hier geschehen ist, muss ganz absichtsvoll, geradezu überlegt geschehen sein. Und wir sollen keine Gelegenheit haben, wegzugucken - oder das Loch zu übersehen.
Über das leere Grab ist viel gesagt, viel spekuliert, viel gezweifelt worden. Aber die Erfahrung, die Johannes in Worte fasst, lässt sich anders gar nicht sagen:
Das Leben, Ostern, beginnt mit einer großen Leere. Der Tod ist leer. Er hat keinen Ort mehr, kein Heimatrecht, kein Denkmal. Wer den Tod sucht, findet nur noch ein Loch. Darum musste der Stein weg gerollt werden - und das Loch offenbaren.
Petrus wird gerufen und läuft. Johannes wird gerufen und läuft. Beide laufen um die Wette. Petrus, ein wenig kurzatmig und zurückgeblieben, darf dann doch als erster in die leere Höhle. Eine kleine Barmherzigkeit am Rande. Johannes erzählt’s mit einem Augenzwinkern und Lächeln.
Frühmorgens, als es noch dunkel war, kam Maria von Magdala zum Grab. Dann bringt sie zwei Jünger auf Trapp. An diesem Morgen gerät alles in Bewegung.
Die Sonne lugte schon über den Rand der Welt.
Glaube wächst
Ich habe Ihnen nicht das ganze Evangelium von Ostern vorgelesen. Nur den Anfang. Es ist noch ganz früh am Morgen. Maria geht allein. Dann holt sie die Jünger. Wir bekommen den Wettlauf der beiden mit. Ein schönes Bild! Dann sehen wir das große Loch! Mehr nicht. Johannes, der mit feinen Strichen diese Geschichte vor unsere Augen malt, führt uns aber so zum Glauben. Behutsam. Dass der Osterglaube nicht vom Himmel fällt, selbst wenn er von Engeln verkündet wird, verstehe ich nur zu gut. Mit Spannung und Erleichterung lese ich sogar von den Jüngern: "sie wussten noch nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste." Eine feine Gesellschaft, zu der ich mich zugehörig fühle. Ich kann heute Morgen auch zugeben, etwas noch nicht zu wissen, nicht zu verstehen, nicht zu glauben.
Aber das ganze Evangelium von Ostern muss ich nachher noch einmal nachlesen. Johannes 20! Evangelium - und große Literatur. Der Höhepunkt des ganzen Evangeliums!
Maria wird Jesus, den sie zuerst für den Gärtner hält, zärtlich und liebevoll mit einem Kosename bedenken: Rabuni. Kaum zu übersetzen. Meisterchen? Schon sehr gewagt! Was sie sich vorher nie zu sagen traute, fällt ihr jetzt aus dem Mund. Eine große Last, eine große Angst fällt auch von ihr ab. Eine neue Geschichte beginnt. Es ist auch eine Liebesgeschichte. Nicht zufällig verlegt Johannes die Szene in einen Garten. Wo wir nur das Loch sehen konnten, sehen wir jetzt das Paradies. Es ist tatsächlich der erste Tag. An ihm hat Gott das Licht geschaffen - und die Nacht getrennt. Das muss ich alles noch einmal nachlesen. Johannes 20!
Frühmorgens, als es noch dunkel war, kam Maria von Magdala zum Grab.
Die Sonne legt schon Farben aufs Land.
Zeugin des Lebens
Maria von Magdala. Als Frau hatte ihr Wort kein Gewicht. Vor Gericht konnte sie nicht einmal als Zeugin geladen werden - oder auftreten. Wenn ihr eine Rolle auf den Leib geschneidert schien, dann die der traurigen Hinterbliebenen. Johannes sieht sie in dieser Rolle auch zum Grab geben. Frühmorgens. Die große Welt schläft noch. Dann die große Überraschung: Jesus nennt Maria mit ihrem Namen. Maria!
Was daraus folgt, ist so aufregend wie Ostern selbst: Eine Frau ist Haupt-, ist Kronzeugin für die Auferstehung Jesu. Die Jünger übrigens wuseln bei Johannes nur durch die Geschichte. Maria von Magdala aber wird sie ihnen aufschließen. Jesus hat es ihr aufgetragen. Sie vertritt ihn. Mit seinem Wort.
"Maria von Magdala ging zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie richtete aus, was er ihr gesagt hatte."
Jetzt war die Sonne aufgegangen.
1630 dichtete Johann Heermann:
"Frühmorgens, da die Sonn aufgeht,
mein Heiland Christus aufersteht.
Vertrieben ist der Sünden Nacht,
Licht, Heil und Leben wiederbracht.
Halleluja.
In kurzem wach ich fröhlich auf,
mein Ostertag ist schon im Lauf;
ich wach auf durch des Herren Stimm,
veracht den Tod mit seinem Grimm.
Halleluja.