enttäuscht
Unlängst klagte eine alte, betagte Frau ihr Leid: wie schwer sie es in ihren jungen Jahren gehabt habe. Als ihr Kind fünf Jahre alt war, starb ihr Mann und sie musste sich und ihr Kind alleine durchbringen. Auf vieles musste sie verzichten. Aber rechtschaffen ist sie geblieben, nie Schulden gemacht und für ihr Kind, so gut es eben ging, da gewesen. Es waren keine einfache Zeiten gewesen. Heute ist sie im Altersheim, ihre Tochter verschuldet und mit einem Mann zusammen, der - so ihre Befürchtung - ihr nicht gut tut. Ihr Geld sei das einzige, das ihre Tochter an ihr interessiere. Eine Stimme. Eine Wahrnehmung. Aus ihr spricht keine Wut, aber Enttäuschung. Vielleicht auch ein Vorwurf, dass sich ihre Tochter zu wenig um sie kümmere.
Der Prophet Jesaja singt heute in der Lesung ein Lied, in dem es um etwas Ähnliches geht: das Weinberglied. Er singt von seinem Freund, der einen Weinberg hat. Und wie sehr dieser sich um ihn bemüht. Schon hierzulande, so wissen wir, ist die Arbeit in einem Weinberg eine mühevolle. Viel mehr noch damals im Orient. Ein Weinberg braucht viel Pflege, damit die Trauben gedeihen. Er braucht einen Schutz gegen Tiere und Diebe. Er braucht eine Kelter. Immer wieder muss der Weinberg in mühevoller Handarbeit von Steinen befreit werden. Und es braucht Jahre, bis es dann soweit ist, dass man die Früchte des Weinbergs ernten kann. Wie viel mühevolle Arbeit, wie viel Pflege, wie viel Sorge - und nicht zuletzt – wie viel Liebe gibt der Weinbergbesitzer seinem Weinberg? Die Frage, die der geliebte Freund im Weinberglied stellt, ist eine rein rhetorische: Was konnte ich noch für meinen Weinberg tun, das ich nicht für ihn tat?
Aus dem Lied spricht - wie bei der Schilderung der Begegnung mit der alten Dame - Enttäuschung. Der Weinberg brachte nicht allein nur geringen Ertrag. Das wäre einigermaßen zu verkraften gewesen. Anstelle der erhofften süßen Trauben brachte er nur saure Beeren. Nicht nur eine minderwertige, sondern eine unbrauchbare Ernte ist der Lohn für die mühevolle Arbeit.
Kränkung und Verletzung
Dass es bei dem Weinberglied nicht allein um Arbeit geht, ist wahrnehmbar. Es ist vielmehr Ausdruck einer enttäuschten Liebe. Darum ist die Reaktion des Weinbergbesitzers auch sehr emotional. Er entzieht ihm nicht allein seine Pflege, sondern noch mehr: er nimmt ihm allen Schutz weg und sogar das lebensnotwendige Nass. Und überlässt dann den Weinberg seinem Schicksal.
Jesaja besingt im Weinberglied das Verhältnis JHWH's zu seinem Volk Israel. JHWH ist der Weinbergbesitzer. Sein Volk der Weinberg. Wir erfahren von der ausdauernden Liebe des Herrn zu seinem Volk. Und auch davon, dass das Volk Gottes diese Liebe nicht fruchtbar werden lässt. Wir hören von einem leidenschaftlichen Gott, der tief enttäuscht sein kann - und verletzt, dass er sogar droht, sein Volk der Vernichtung preiszugeben.
Aus Kränkung und einer Verletztheit heraus spricht und tut man mitunter Dinge, die man später bereut. So ist es auch bei Gott - so die Überlieferungen.
Wenn Gott wirklich alles für sein Volk getan hat, warum hat dieses nicht die gewünschten Früchte erbracht? Der Prophet schweigt in diesem Abschnitt darüber. Erst später können wir lesen: "Was der Herr tut, beachten sie nicht, was seine Hände vollbringen, sehen sie nicht."(Vers 12b).
Also doch geschmähte Liebe Gottes? In einem Kirchenlied singen wir gerne und auch oft: Lobet den Herren, der dich erhält, wie es dir selber gefällt, hast du nicht dieses verspüret. Es ist gut, dass wir uns als Volk Gottes immer wieder uns an die Wohltaten des Herrn erinnern, um nicht zu vergessen, was der Herr bis heute tut, um nicht zu übersehen, was des Herren Hände vollbringen. In seinem Volk. In unserer Kirche. Im eigenen Leben.
Wertschätzung der Liebe Gottes
Wie vom Volk Israel als auch vom neuen Volk Gottes, zu dem wir durch unsere Taufe gehören, erwartet Gott zu Recht Anerkennung. Wir können sein Mühen sehen und seine treue Fürsorge Tag für Tag: bei jedem Sonnenaufgang, bei jedem Schluck Wasser aus dem Wasserhahn oder dem Brunnen am Weg, bei jedem Menschengesicht, das uns anlächelt, bei jedem guten Wort, das uns entgegenkommt, bei all den hunderttausend Kleinigkeiten, die uns gegeben sind... Darum wird es doch auch wie selbstverständlich sein, dass wir auf ihn hin ausgerichtet sind. Darum werden wir selbst gerecht sein und wir uns dafür einsetzen, dass die Gerechtigkeit Gottes in unserer Welt, in unserer Gesellschaft und im Zusammenleben anbrechen kann. Gott hat nicht aufgehört, auf diese Früchte zu hoffen.
Was aber erwartet sich die alte Frau vom Beginn der Predigt? Vielleicht ähnliches wie Gott im Weinberglied. Dass ihre Tochter sie beachtet und jene Mühe wertschätzt, die sie im Laufe ihres Lebens für sie auf sich genommen hat. Nicht so sehr, damit ihr es selbst besser geht, sondern vielmehr damit ihre Tochter ein glückliches und sorgenfreies Leben führen kann.