Fische ertrinken nicht im Wasser. Der Maulwurf erstickt nicht unter der Erde. Die Vögel in der Luft fallen nicht vom Himmel. Gold und Eisen verbrennen nicht im Feuer, sondern werden durch Hitze und Glut von ihren Schlacken befreit. Diese Beispiele zeigen: Es gibt Bereiche, in denen Lebewesen sich offensichtlich besonders wohl fühlen, Elemente in ihrer Besonderheit eindeutiger und klarer hervortreten.
Wenn wir für uns Menschen den Bereich suchen, in dem wir aufblühen, uns pudelwohl fühlen und unser Menschsein so richtig genießen und zur Geltung bringen können, dann ist dies der Bereich und der Raum der Liebe. Auf welchen Teil der Erde, in welche Umgebung oder Situation wir auch gestellt werden, immer wenn wir uns in die Liebe eingebettet fühlen, geht es uns gut, wie viel an Mühe und Sorgen uns auch belasten oder noch bevorstehen. Solange wir von der Liebe umhüllt und getragen werden, gehen wir nicht unter, wird uns die Luft nicht abgeschnürt, stürzen wir nicht total ab, brennen wir nicht aus. Die Liebe ist unser Lebens-Element wie das Wasser für die Fische, die Erde für den Maulwurf, die Luft für die Vögel.
Damit es uns gut gehe
Und genau um dieses unser Wohlergehen geht es Gott. Es soll uns Menschen gut gehen bei unserem oft auch mühevollen Leben. Diese Absicht steckt hinter Gottes Geboten, auf die Moses, wie wir in der Lesung gehört haben, das Volk Israel verpflichtet. Die Weisungen Gottes sollen uns nicht knechten, nicht zermürben, nicht unsere Freude beeinträchtigen, sondern uns Raum für die Atmosphäre der Liebe und quirliges Leben schaffen und erhalten.
Die Gebote Gottes, so sagt Moses seinem Volk und uns, zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus.
Erstens: Sie enthalten keine Überforderungen an uns. Wörtlich heißt es: "Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft."
Zweitens: Gottes Gebote müssen nicht erst vom Himmel herab geholt oder über das weite Meer herbei geschafft werden, damit wir ihre Inhalte kennen lernen. Moses behauptet: Die Inhalte göttlicher Weisungen seien schon in unsere Herzen eingepflanzt.
Wie sehr Moses mit seiner Behauptung Recht hat, können wir am Menschen Jesus ablesen. Er kannte die jüdischen Gebote. Und er dachte nie im Traum daran, sie abzuschaffen. Aber Jesus hält die Gebote nicht nach dem Buchstaben ein, sondern fragt nach ihren Inhalten, nach dem, was sie beabsichtigen. Alle Gebote Gottes sollen dem Menschen helfen und Gutes antun. Weil Jesus dies mit ganzem Herzen will, darum kann er am Sabbat heilen, mit Verachteten Mahl halten, sich im Kreise der Sünder aufhalten und ihr Freund sein. Sein Herz ist geprägt von der Liebe, so wie unsere Herzen in der Tiefe geprägt sind, die Liebe zu leben.
Gebote erinnern
Das von Liebe geprägte Herz ist dankbar für jedes Gebot. Denn Gebote erinnern. Sie bewahren uns davor, zu schnell unüberlegt Tag für Tag nur dahin zu leben. Dabei ist zu beobachten: Gerade das von Liebe geprägte Herz lässt jedes Gebot erst richtig ausschöpfen und umfassend handhaben.
Wenn uns z.B. das vierte Gebot daran erinnert, "unsere Eltern zu ehren", dann sagt uns das liebende Herz, wie dies in den einzelnen Situationen und Lebensabschnitten aussehen müsste. Die Liebe des Kleinkindes zu seinen Eltern wird sich in vielem anders gestalten als die Liebe erwachsener Kinder zu ihren alternden, kranken, hilfsbedürftigen Eltern. Die Liebe gibt dem Inhalt eines Gebotes die situationsgerechte Ausformung. Sie bringt auf gute Ideen, legt das rechte Wort in den Mund, sieht, was der Augenblick erfordert.
Die Liebe drängt uns zum Guten; sie zeigt uns aber auch das richtige Maß. Sie lässt uns erkennen, was unbedingt notwendig, gut und schön, gerechtfertigt oder aber auch überzogen ist. Sie gibt uns an, wo wir Grenzen ziehen dürfen oder gar ziehen müssen. Gott lässt den Israeliten durch Moses sagen, dass seine Gebote keine Überforderungen an uns richten. Je nach Situation dürfen und müssen wir - zum eigenen Schutz oder zum Wohl des anderen - z.B. die Pflege alternder Eltern, kranker Ehepartner, behinderter Kinder in die Hände anderer legen. Wo dies in Verantwortung geschieht, wird das vierte Gebot nicht unterlaufen. Bei Jesus selbst können wir beobachten: Er hat nicht alle Kranken geheilt, alle Toten zum Leben erweckt, allen Blinden das Augenlicht geschenkt. Aber dort, so er war, schenkte er allen in seiner Umgebung seine Zuwendung, seine Herzlichkeit, sein Erbarmen, seine Hilfe.
Grenzen der Liebe
Bei der Überlegung zu den Grenzen unserer Liebe sollten wir eines immer fest im Auge behalten: Wir können zwar nicht allen Menschen helfen, nicht alle unterstützen, nicht jede Not beheben oder lindern, nicht grenzenlos verfügbar sein, aber wir vermögen unendlich viel, wo wir auf die Stimme unseres Herzens hören. Wir müssen Gottes Gebote nicht erst vom Himmel oder über das Meer herbei holen, um sie auf Einzelheiten hin zu studieren und zu befragen. Gottes Gebote sind mit der Liebe unseren Herzen eingeschrieben. Weil sie alle auf der Liebe basieren und durch die Liebe in unseren Herzen verankert sind, finden wir für unser Verhalten und Handeln wie von selbst das richtige Maß, die angemessene Form, den rechten Zeitpunkt. Wir müssen nur immer wieder aus der Grundhaltung der Liebe unser Herz befragen. Darauf kommt es an, nicht auf die Erfüllung der Buchstaben des Gesetzes.
Mit "ganzem Herzen und ganzer Seele"
Weil dies der entscheidende Punkt ist, weist Moses als Erstes eindringlich darauf hin, sich mit "ganzem Herzen und ganzer Seele" Gott zuzuwenden. Moses ist überzeugt. Wer Gott im Blick hat - seine Güte, seine Liebe, seine Barmherzigkeit - wird selbst nach Liebe streben. Wer Gott im Blick hat, wird sich zunehmend weniger der ihm möglichen Liebe verweigern. Und deckt sich unsere Erfahrung im Leben nicht mit der Weisung des Mose! Sobald wir Gott nicht mehr recht in den Blick nehmen und in die Mitte unseres Lebens stellen, schleicht sich Laxheit und Bequemlichkeit bei uns ein. Wir unterlassen das Gute, obwohl wir es, ohne überfordert zu sein, tun könnten. Die Folge ist ein Stück Verärgerung und Enttäuschung der anderen über uns. Die gute Atmosphäre schwindet. Wir fühlen uns nicht mehr wohl miteinander, obwohl wir uns gegenseitig nichts Böses antun. Das quirlige, frohe Leben schwindet in dem Maß, wie wir es vernachlässigen, für unser gemeinsames Leben einen Bereich und Raum der Liebe zu schaffen.
Nehmen wir aus diesem Gottesdienst wieder neu mit: Wir Menschen brauchen den Raum der Liebe. Die Gebote Gottes wollen uns daran erinnern. Wir können die Liebe leben, weil sie unserem Herzen eingepflanzt ist. Wir werden umso mehr nach der Liebe streben, je bewusster Gott mit seiner Liebe in unseren Blick kommt. Genießen wir seine Liebe. Sie wird uns fähig machen, für viele unserer Mitmenschen ein Segen zu sein.
Claudia Simonis-Hippel (2013)
Martin Stewen (2010)
Norbert Riebartsch (2007)