Eine Geschichte, die jeder kennt
Fragen Sie einmal herum, vielleicht sogar bibelferne Menschen, nach den bekanntesten Geschichten, die in der Heiligen Schrift zu finden sind - die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die wir heute hörten, ist mit großer Wahrscheinlichkeit dabei. Das liegt vermutlich daran, dass diese Geschichte mehr ist als einfach nur die Schilderung einer Begebenheit, die ja noch nicht einmal stattgefunden hat, - die Jesus allein zitiert, um ein Beispiel für die Zuhörerschaft zu liefern.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist vielmehr ein Glanzstück einer Katechese, wie es sich so manche Lehrende vielleicht zwischendurch wünschen würden: Hörenden für die Lehre ein Beispiel zu nennen, das derart Geschichte macht, so hängen bleibt und sich so hält, ist schon ein Glücksgriff. Jesus bzw. Lukas ist dieser Glücksgriff gelungen.
Weniger Kult, mehr Mensch
Worum geht's? Ausgang ist die Belehrung Jesu an den Gesetzeslehrers hinsichtlich der Frage: Wie bekomme ich ewiges Leben? Die Antwort scheint uns plausibel - so ist sie uns bekannt: Du sollst Gott lieben, deinen Nächsten und dich selbst. So einfach ist das. An den Gesetzeslehrer aber wird jeder fromme Jude die Frage stellen: Wie kommst du auf die Idee? - Im Gesetz der Juden sind nämlich Gottesliebe und Nächstenliebe wohl Vorschriften an den Frommen, aber sie sind unabhängig voneinander.
Der Evangelist Lukas versucht mit dem Wort, das er dem Gesetzeslehrer in den Mund legt, Jesu neuen Blickwinkel einzunehmen: den Menschen in den Blick zu bekommen als den Ort, wo man Gott begegnet, weil Gott selbst Mensch geworden ist.
Lukas sagt einen Perspektivenwechsel an: Er wendet den Blick der Menschen vom Himmel auf die Erde. Für die Zeit Jesu bedeutet diese Aussage etwas ganz Starkes. Lukas fordert die Zuhörerschaft auf, in Jesu Sinne Gott nicht nur zu suchen im Kult des Tempels, sondern im Nächsten, im anderen Menschen. - Dort begegnet ihr eurem Gott!
Diese ganze Aussage toppt Jesus dann mit der Geschichte vom Mann, der unter die Räuber kam. Sie liest sich wie ein Programm für gelebtes Christentum. Und sie ist pure Provokation. Lukas stellt drei Menschen dar, die ihre Einstellung zum Menschen, der Hilfe braucht, zeigen durch ihr Handeln - zwei davon auf eine Weise, die erschaudern lässt: Und genau in den Kreis dieser beiden gehört der Levit, den Jesus belehrt.
Jesu Botschaft: Wenn du deinen Gott aufrichtig suchst und liebst, kommst auch du als gelehrter Theoretiker am Menschen nicht vorbei. Jesus ordnet die Gesetzestreue der Liebe zum Nächsten gleichwertig bei, vielleicht sogar doch eher nach? Nach. Klar, wir wissen aus anderen Zusammenhängen der Evangelien, dass Jesus für die Gestaltung der Gottesbeziehung klare Ideen für Spielregeln hat. Aber bei allem: Zuerst kommt der Mensch. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter kondensiert diese Aussage, bringt sie auf den Punkt.
Eine Idee, die verändern kann
Damit war eine Idee geboren, die Zeiten und Menschen verändern sollte. Dass eine Hilfsorganisation sich nach diesem Mann aus Samarien benannte, ist dabei nur ein kleines Detail. Das Wesentlichste: Die Beziehung zum Gott Jesu Christi kann nur auf dem Weg über den Menschen gelingen, - das ist Markenzeichen des Christentums. Und dieses Markenzeichen hat eine ganze Kultur geprägt - auch wenn man heute vielleicht nach den Prägemalen durchaus immer mal wieder suchen muss.
Das ist dann also auch der Qualitätsmaßstab, an dem wir vor allem als Kirche etwa mit Blick auf die Glaubwürdigkeit der Verkündigung unserer Botschaft gemessen werden. Was auch immer wir tun - am Menschen kommen wir nicht vorbei. Es darf innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft - quer durch ihre ganze Hierarche - keine Vorurteile, keine Berührungsängste mit den Menschen in dieser Welt geben. Begegnung auf gleicher Augenhöhe ist angesagt.
Wir sollen und dürfen aneinander Fragen haben - das ist gut und wichtig. Nie dürfen Verantwortliche der Kirche aber meinen, die Menschen durch und durch zu kennen und alles über sie zu wissen. Wer so denkt und daraus handelt, missachtet die Geheimnishaftigkeit des Schöpfungsaktes Gottes. Das gilt, wenn wir die Botschaft Jesu verkündigen und lehren - dieses Tun muss etwas zu tun haben mit dem Leben von Menschen. Wenn wir unseren Gott feiern in den Liturgien der Kirche - das muss etwas zu tun haben mit dem Leben der Menschen. Und als Ortgemeinden sind wir nur Zeichen für diese Welt, wenn das Leben der Menschen vollumfänglich darin vorkommen darf.
Handle auch DU genauso!
Als einzelne Christin, als einzelner Christ werden wir gefragt, ob wir die Menschen am Rande unseres Lebensweges wahrgenommen haben, ob wir gesehen haben, wer uns braucht. Nicht immer liegen die Menschen, die unter die Räuber oder unter die Räder gekommen, mitten auf der Straße. Oft müssen wir nach ihnen suchen, nach ihnen fragen, weil sie sich mit ihrem Leid und ihren Verletzungen zurückgezogen haben: Menschen, die aus sozialen Netze fallen, weil sie mit ihren Lebensaufgaben körperlich, psychisch und oft finanziell überfordert sind; Menschen, die nie im Bannkreis der Gesellschaft angekommen sind, weil sie dazu keine Chance hatten: etwa weil sie auf der Flucht sind, weil sie psychisch derart krank sind, dass sie nicht in Gesellschaft leben können. Menschen, die in Kreise gehören, deren Anderssein gesellschaftsfähige Vorurteile provoziert: Ausländerinnen und Ausländer, die ihre fremden Religionen und Kulturen pflegen; Menschen, die ihre Liebe in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. - Viele mehr fallen uns ein, wenn wir unseren Alltag an unserem inneren Auge vorbeiziehen lassen.
Mit den Augen Jesu schauen
Zusammenfassend kann man das auch so sagen: Die Liebe zum Nächsten "besteht [...] darin, dass ich auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus [...] Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund.” - So Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika Deus Caritas est (Nr. 18).
Und abschliessend noch ein letzter Gedanke: Unser Blick muss vielleicht auch jenen gelten, die hier in der Geschichte dargestellt sind als der Priester und der Levit. Vielleicht brauchen nicht nur jene Menschen unsere Zuwendung, die uns am Rande unseres Lebensweges begegnen. Sondern vielleicht auch solche, die mit uns auf dem Weg sind, die wohl viel haben und viel können, von denen man eigentlich viel erwarten kann: die aber nicht wissen, was zu tun ist. Auch in Liebe vollbrachte, geschwisterliche Zurechtweisung kann ein Dienst am Nächsten sein.