Vierzig Tage Zeit
Am Aschermittwoch beginnt nach unserem Sprachgebrauch die Fastenzeit. Besonders prägnant aber heißt es in den Niederlanden und Belgien: 40-Tage-Zeit. Sehr nüchtern. Fast schon zum Abzählen. Vierzig Tage.
Vierzig Tage begegnen uns im Evangelium. Jesus wird in die Wüste geführt - Jesus wird in Versuchung geführt. Markus, der uns die Szene überliefert, vermeidet alles, um die Neugier zu befriedigen. Ich bin ihm ein bisschen böse. Ich möchte gerne wissen, wo die Wüste ist, was das für eine Wüste ist - und was hier Versuchung heißt.
Das Volk Gottes in der Wüste
Wir werden zurückschauen müssen, heute. Es gibt Spuren. Viele. Mehr als gedacht, mehr auch als erwartet. Markus ist ein Meister seines Fachs. Er deutet nur an - und öffnet doch eine Geschichte, die sich uns wie ein weites Land auftut. Auf einmal sehe ich das Volk Israel - nein, nicht 40 Tage, 40 Jahre durch die Wüste ziehen. Das Sklavenhaus Ägypten haben sie hinter sich gelassen. Besser: Sie wurden aus dem Sklavenhaus Ägypten geführt. Mit starker Hand, wie es in den alten Bekenntnissen heißt. Gott selbst hat sich zum Anführer bestellt. Seinem Namen macht er alle Ehre: Ich gehe mit euch.
Aber die vielen Geschichten, die seit alters her kursieren und als Heilige Schrift betrachtet werden, erzählen in immer neuen Wendungen von dem Unglauben und der Treulosigkeit seines Volkes. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, aber die vierzig Jahre stehen für eine Zeit der Läuterung, der Bewährung - ja, auch der Strafe. Vierzig Jahre stehen für eine Zeit der Reife. Gottes Volk soll seine Identität - in der Wüste finden. Ob das wirklich vierzig Jahre waren? Ich nehme den Kalender lieber nicht zur Hand. Und doch sind die Tage abzuwägen und zu zählen. Vierzig Jahre stehen für etwas - sie stehen für einen langen und mühsamen Weg. Vierzig Jahre stehen - bei der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen früher - für ein ganzes Leben.
Unser Glauben wird ein Leben lang auf die Probe gestellt. Wir werden versucht, ja, wir lassen uns versuchen - und wir versuchen andere. Ein schönes Wort steckt in "Versuchung": wir sind auf der Suche. Manchmal ist uns sogar das Ziel entschwunden. Wir - irren herum. Wir reden durcheinander. Wir spielen nur. Manchmal könnte uns dann selbst ein schöner Raum zur Wüste werden. In der bildreichen Sprache der Psalmen: uns klebt der Gaumen fest. Wir schmecken das Leben nicht mehr. Uns schmeckt das Leben nicht mehr. Alles ist trocken, vertrocknet. Die Seele auch. Sie schmachtet.
Jesus in der Wüste
Und dann das! Im Evangelium heißt es lapidar: In jener Zeit trieb der Geist Jesus in die Wüste. In jener Zeit? In welcher Zeit? Wir werden stutzig. Es ist die Zeit, in der Jesus anfängt. Alles, was Jesus sagen und tun wird, muss er in der Wüste beginnen. Es gibt keine Vorschusslorbeeren, keine großen Antrittsreden, nicht einmal einen Stern. Aber: einen Versucher gibt's!
Wenn wir von den wilden Tieren einmal absehen und uns auch nicht von Engeln auf eine falsche Fährte locken lassen: Jesus lernt in der Einsamkeit, alleine zu sein - und seinen Weg zu finden. Noch ist nicht ausgemacht, wie dieser Weg aussehen - und: ausgehen - wird. Alles ist noch offen. Ob Jesus gewusst, geahnt, befürchtet hat, dass sein Weg zum Kreuz führt? Wir lesen gewöhnlich seine Geschichte von ihrem Ende her. Manchmal schon gelangweilt, manchmal auch einfach nur abgestumpft. So gelangweilt und abgestumpft, wie wir oft menschliches Leben betrachten - und übergehen. So sehen wir Jesus in der Wüste die Einsamkeit kennenlernen, die ihm im Garten Gethsemane zuteil wird. Er lernt die Verlorenheit kennen, die ihm auf Golgota ereilen wird.
Sie möchten jetzt gerne wissen, wie der Versucher ausgesehen hat? Die mittelalterlichen Künstler und Erzähler waren sehr mutig, aber was sie darstellten, war letztlich nicht mehr als der Schrecken, den wir als Menschen kennenlernen, wenn wir vor Abgründen stehen. Abgründen des Bösen, des nicht mehr Verständlichen, nicht mehr Einzuordnenden. Ja, den Schlund der Hölle kann man sehen - und die Menschen, die verschlungen werden auch. So kamen die widerlichsten Figuren ins Bild, nicht ohne einen gewissen Voyeurismus ihrer Zuschauer und - Maler. In das Spiel mit dem Feuer haben sich immer schon Menschen verliebt.
Der Gegenspieler Gottes
Aber hier - im Evangelium - wird der Satan als der geheimnisvolle und trickreiche Gegenspieler Gottes auf die Bühne gebracht. Er wird vorgeführt. Dabei macht er seinem Namen alle Ehre: er verwirrt alles. Was vorher klar war, ist nicht mehr klar. Was Vertrauen ausmachte, geht ins Leere. Was Berufung ist, geht im Zweifel unter. Der Satan nistet sich einfach ein. Besetzt Gedanken. Gräbt sich ins Herz. Gekonnt - und immer vernünftig. Ob sich Jesus gefragt hat: Soll ich einen anderen Weg gehen? Muss ich denn den Sohn spielen, den Sohn Gottes? Ist denn Liebe wirklich so grenzenlos? Wenn Gedanken, Überlegungen und Zweifel so mächtig werden, dass sie sich sogar mit Gott anlegen - dann lugt aus ihnen der Versucher hervor. Schade - Markus erzählt nicht viel von dem Versucher, nur, dass er allseits gegenwärtig war. Vierzig Tage. Viel Zeit. Jede Stunde kann dann zu viel sein.
Wir umschleichen jetzt zwar mit gebührendem Abstand die Szene, die der Evangelist ohne viele, schon gar nicht mehr großen Worten erzählt, aber die ganze Zeit schon habe ich das Gefühl, dass sogar von mir die Rede ist.
Manchmal weiß nicht mehr, was ich noch glauben kann.
Manchmal fühle ich mich wie ein Träumer, manchmal wie hereingelegt.
Manchmal halte ich die Welt nicht mehr aus.
In der Wüste wächst mir Jesus ans Herz. In der Wüste! Noch mehr Nähe - und das von Anfang an - kann es nicht mehr geben. Ich fühle mit. Oder: Fühlt er mit mir? Es ist immerhin der Geist, der Jesus in die Wüste führt. Der wird sich schon was dabei gedacht haben!
Die Zeit ist erfüllt
Was sind schon vierzig Tage? 4 x 2 Hände Tage (Prediger zeigt seine Hände). Fast schon an den Fingern abzuzählen. Eine Probezeit. Die Probezeit? Jesus hat zu seinem Weg, zu seiner Botschaft gefunden:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!
Eine Kurzformel, zugegeben - was Jesus aber gesagt und getan hat, wird an anderen Stellen eindrücklich und ausführlich bezeugt. So kommt er uns jeden Sonntag nah. Er hat Sünden vergeben, Verlorene gesucht, Kranke geheilt ... Tatsächlich: das Reich Gottes ist nahe.
Probezeit
Für uns ist das jetzt auch - Probezeit. Ich weiß nicht, was Sie gerade bewegt. Auch nicht, woran Sie gerade leiden. Schon gar nicht, was Ihren Glauben bedrängt. Vielleicht finden wir eine Gelegenheit, miteinander zu reden. Vielleicht auch, miteinander zu schweigen. Aber der Gedanken, dass wir eine Probezeit vor uns haben, berührt mich sehr. Ich muss nicht einfach weiter laufen. Mich auch nicht weiter treiben lassen. Ich kann einhalten - und dem Versucher, der aus meinen Gedanken, Überlegungen und Zweifeln lugt, ins Auge schauen. Dann ist er - durchschaut! Dann habe ich ihn - durchschaut.
Probezeit - Parolizeit! Der Geist hat Jesus in die Wüste geführt, um dem Versucher da, wo er am stärksten war, Paroli zu bieten.
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Karl Gravogl (2000)
Lorenz Walter Voith (1997)
Norbert Riebartsch (2003)