Dem Herzen geben
Rainer Maria Rilke, ein bedeutender deutscher Dichter und Schriftsteller, hat einmal Folgendes erlebt. Er saß in einem Kaffee. Da erblickte er auf der anderen Seite der Straße eine Bettlerin. Er beobachtete wie die Menschen immer wieder Münzen in die Hand dieser Frau legten und dann achtlos an ihr vorübergingen. Rilke stand auf und ging zu der Frau. Doch er schenkte ihr kein Geldstück: Rilke schenkte der Frau eine Rose und lächelte sie an. Freudestrahlend ergriff die Bettlerin Rilkes Hand. Dabei strahlte auch sie. Eine ganze Woche war die Bettlerin nicht zu sehen. Einem Freund, der das miterlebt hatte erklärte Rilke: "Man muss dem Herzen der Frau geben, und nicht nur eben Geld!"
Was Rilke erlebt und getan hat, das hat sehr viel zu tun mit dem, was wir im Evangelium und auch in der Lesung gehört haben. Wir hören, dass viele Menschen Jesus suchen. Was hatte er für eine Ausstrahlung. Ihm gelingt es nicht, sich zurückzuziehen. Jesus ist ein gesuchter Mann. Denn er hat etwas, er strahlt aus, wonach sich die Menschen sehnen. Jesus geht auf die Suche und auch die Wünsche der Menschen ein. Denn er spürt ihre Not. Jesus hat Mitleid mit den vielen Menschen, die ihn suchen.
Matthäus berichtet: er "heilte die Kranken, die bei ihnen waren." Jesus zeigte sich als einer, der das Heil der Menschen will. Sicher waren es körperliche Krankheiten. Doch es gibt auch noch andere Krankheiten, anderes, woran zu erkennen ist, dass die Welt nicht heil ist. Das ist Einsamkeit, das sind Ängste, das kann auch das Gefühl sein, nicht geliebt und angenommen zu sein. Menschen sind krank, weil ihrem Herzen niemand gibt. Bei Jesus finden die Menschen das, was sie suchen. Sie finden einen Sinn, sie finden Halt. Jesus hat, wie es Rilke tat, dem Herzen der Menschen gegeben.
"… kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!"
Die Menschen haben sich verstanden gefühlt, ernstgenommen. Sie waren keine Nummer in einem großen Betrieb, kein Rädchen, das zu funktionieren hatte und falls sie nicht mehr funktionieren, dann ausgewechselt zu werden. Sie spürten: bei Jesus, da kann ich Mensch sein, da bin ich angenommen. Diese letzten Gedanken stehen so nicht im Evangelium. Doch sie entsprechen dem Leben, dem Denken und dem Fühlen vieler Menschen damals wie heute. Besonders am Arbeitsplatz fühlen sich viele überfordert, gehetzt und kommen sich vor wie eine Maschine. Du bist das wert, was du leistest. Du bist das wert, was du hast und dir kaufen kannst.
Die Menschen haben durch Jesus erfahren, dass bei Gott alles anders ist, als wir es in unserem Leben erfahren. Durch seine Worte und auch durch seine Handlungen haben sie erfahren, was wir in der ersten Lesung geschrieben steht: "… kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!" Wein und Milch steht für ein Leben in Fülle, für ein Leben in Freude. Wer Wein und Milch hat, der hat das, was er braucht, um ein erfülltes Leben führen zu können. Gott schenkt die Fülle. "Hört auf mich!" Hören wir auf Gott, dann wird unser Leben erfüllt werden. Es lohnt sich, es bringt etwas, wenn wir auf Gott hören. Das schönste an diesen Worten aus Jesaja ist, dass wir uns das alles nicht verdienen brauchen.
Leben in Fülle
Gott schenkt Leben in Fülle. Dazu gehört Gesundheit, dazu gehört, dass ich geliebt werde. Doch dieses Evangelium ist ein sehr realistisches Evangelium. Wir haben auch Bedürfnisse für unseren Körper. Wir brauchen genügend zu essen, zu trinken. Wir brauchen ebenso Kleidung, eine Wohnung, ja ein Zuhause. Die Bettlerin im Leben von Rilke brauchte auch Geld um sich zu essen kaufen zu können. Viele Flüchtlinge, die wir immer wieder in den Nachrichten sehen, suchen nach einem sicheren Ort für ihre Familien, für ihre Frauen und Kinder. Sie dürfen nicht mit schönen Worten abgespeist werden. Wenn jemand in Not ist, nützt es wenig, von der Liebe Gottes zu erzählen, wenn er keine konkrete Hilfe erfährt. Jesus hat die Not der Menschen gesehen - auch die Not, dass sie nun etwas zu essen brauchen.
Die Jünger haben - vordergründig und verständlicherweise zu wenig. Sie wollen die Menschen wegschicken lassen. Doch Jesus nimmt sie in die Pflicht. "Gebt Ihr Ihnen zu essen!" Jesus nimmt das, was die Jünger haben. Der Rest ist wohlbekannt. Doch in diesem Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern sehe ich die Botschaft.
Die Nöte und Sorgen der Mitmenschen dürfen uns nicht gleichgültig lassen
Wir sind gefordert. Gott schenkt zuerst uns das Leben in Fülle. Gott schenkt uns Heil. Doch nicht nur uns. Es gibt viele Nöte der Menschen, seelisch wie materiell. Wir können nicht als einzelne auch nicht als einzelne Gemeinde die ganze Welt retten. Aber wir können viel Not abhelfen. Die Nöte und Sorgen der Mitmenschen dürfen uns nicht gleichgültig lassen. Gott schenkt sein Heil, seine Liebe allen Menschen. Wenn ich teile, wenn ich spende, dann gebe ich nur das anderen, was mir selbst geschenkt wurde.
Vom Heiligen Benedikt wird diese Geschichte überliefert. Ein Pförtner aus seinem Kloster hat einem Armen einmal eine Gabe verweigert. Als Benedikt davon hört, nahm der die Gabe und warf sie aus dem Fenster. "Diese Gabe steht uns nicht mehr zu!" Der Reichtum der westlichen Welt ist auf dem Rücken vieler Menschen in den ärmsten Ländern aufgebaut. Es ist ein Skandal, wenn anderswo Menschen unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten, damit wir hier billig Kleidung kaufen können.
Aus wenigem viel machen
"Gebt ihr ihnen zu essen!" sagt Jesus. Tut, was ihr könnt, und sei es auch noch so wenig. Rilke hat das in einem kleinen Beispiel vorgemacht. Wenn wir teilen können, wenn wir Menschen in Not helfen können, dann brauchen wir das nur mit dem zu tun, was uns zur Verfügung steht. Schöne Worte sind einfach zu wenig. Gott kann, das zeigt das Evangelium, aus dem wenigen viel machen.
Das gilt eben nicht nur materiell. Es gilt auch für die anderen Nöte der Mitmenschen. Ein gutes Wort, ein aufmunterndes Wort kann viel bewirken. Gastfreundschaft kann sich auswirken. Wie einfach ist es zum Beispiel mit anderen zu jammern über die Welt. Doch warum nicht dem Jammern positive Gedanken entgegensetzen. Jeder hat die Möglichkeit, andere anzunehmen, die keiner annimmt. Wenn ich einem Menschen Zeit schenke, dann scheint das eine Kleinigkeit zu sein. Doch es kann viel zu dem beitragen, was Gott schenkt.
Jesus hat Kranke geheilt. Jesus hat 5 Brote und zwei Fische geteilt. Alle wurden satt. Viele Kranke wurden gesund. Diese Wunder sollen uns helfen, an Gott zu glauben. Sie zeigen auf, wie sich Gott die Welt gedacht hat. Bei Gott finden wir Glück. Jesus schenkt das Leben in Fülle. Er schenkt das Leben in Fülle allen und jedem, auch dem, dem es schlecht geht, ob ein Mensch krank ist oder in Not lebt. Schenken wir einander, auf verschiedene Weise das, was Gott uns schenkt. "Gebt ihr ihnen zu essen!" Wir sind gefordert. Die Rose von Rilke ist ein schönes Beispiel.