1. Lesung vom 6. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A:
Sir 15,15-20 (16-21)
Lesung aus dem Buch Jesus Sirach:
Gott gab ihm [dem Menschen] seine Gebote und Vorschriften.
Wenn du willst, kannst du das Gebot halten;
Gottes Willen zu tun ist Treue.
Feuer und Wasser sind vor dich hingestellt;
streck deine Hände aus nach dem, was dir gefällt.
Der Mensch hat Leben und Tod vor sich;
was er begehrt, wird ihm zuteil.
Überreich ist die Weisheit des Herrn;
stark und mächtig ist er und sieht alles.
Die Augen Gottes schauen auf das Tun des Menschen,
er kennt alle seine Taten.
Keinem gebietet er zu sündigen,
und die Betrüger unterstützt er nicht.
Das Buch Jesus Sirach gehört zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur, über dessen Verfasserschaft keine Klarheit herrscht. Deutlich zu erkennen ist wohl ein hoher Bildungsstand des Autors. Entstanden ist das Buch im 2. Jahrhundert v. Chr. entweder in Jerusalem oder im ägyptischen Alexandria.
Es besteht zum einen Teil aus einer Sammlung von Sprichworten, zum anderen Teil aus einem Lobgesang auf die Schöpfung. Dort findet sich auch die heutige Lesungsperikope.
Der für die Liturgie ausgesuchte Textabschnitt ist Teil einer größeren Einheit (Sir 15,11-20). Die Verse 11 bis 14 lauten: "Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott. Denn was er haßt, das tut er nicht. Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht. Denn er hat keine Freude an schlechten Menschen. Verabschäuungswürdiges haßt der Herr: alle, die ihn fürchten, bewahrt er davor. Er hat am Anfang den Menschen geschaffen und ihn der Macht der Eigenen Entscheidung überlassen." (vgl. "ungekürzte Fassung")
Der Schreiber wehrt sich gegen die Tendenz, die auch uns nicht fremd ist: Der Mensch sucht die Schuld bei Gott. Die Auffassung der Griechen, daß der "Neid der Götter" den Menschen zu Fall bringt, steht wahrscheinlich dahinter. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, damit er ein freies Ja zu Gott und seiner Liebe sagen kann. Gott riskiert gleichsam mit der Freiheit des Menschen auch, daß sie die Sünde ermöglicht. Gottes Weisheit will die Freiheit, um dem liebenden Menschen Anteil an seinem Heil zu geben, denn ohne Freiheit ist Liebe nicht möglich.
Mit diesem Gedanken beginnt unsere Perikope. Die Wahlfreiheit wird zuerst im Bild von "Feuer und Wasser" angesprochen, dann aber ist in Anlehnung an Deutronomium 30,15-16 von Leben und Tod die Rede. Dort heißt es: "Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote der Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, ... dann wirst du leben und zahlreich werden ..."
Am Schluß wird in Vers 20 der Gedanke vom Anfang der Perikope (Vers 11) wieder aufgegriffen: Der Sünder, der Betrüger, kann nicht Gott die Schuld für sein Versagen zuschieben.
Die Lesung ist dem Buch des Jerusalemer Weisheitslehrers Jesus Sirach entnommen. Jesus Sirach schreibt am Beginn des 2. Jahrhunderts vor. Chr. und sieht sich vielen neuen Geistesströmungen, die mit den hellenistischen Machthabern in Land Eingang gefunden haben, konfrontiert. Er verteidigt jüdische Überlieferung als Weisheit Gottes, die zum Leben führt, gegenüber griechisch-hellenistischen Weisheitslehren, welche die Freiheit des Menschen und damit die Möglichkeit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden und für die eigenen Taten Verantwortung zu übernehmen, in Abrede stellen.
Es ist hilfreich, auch die vorangehenden Verse (vgl. die "ungekürzte Fassung") zu lesen. Sie enthalten die Fragestellung, auf welche die Verse 15 bis 20 eine Antwort geben: Wer ist für das Böse in der Welt verantwortlich?
Jesus Sirach weist den Gedanken, daß Gott das Böse gewollt haben könnte, mit der Überlegung zurück, daß Gott nicht etwas geschaffen haben kann, was er haßt. Er betont die Freiheit und Verantwortung des Menschen, der die Weisheit des Gottesgesetzes annehmen oder ablehnen kann. In seiner Argumentation lehnt er sich an Deuteronomium 30,15ff an.
Martin Stewen (2014)
Karl Gravogl (1999)
Hans Hütter (1996)