Das Evangelium stellt uns vor eine Sammlung von Sprüchen und Aussprüchen Jesu. Aus dem Reichtum dieses Schatzes gilt es, das Gute hervorzuholen.
Wie eine Perlenkette kluger Sprüche
Toll, so viele kluge Sprüche! Sie sind aneinandergereiht wie Perlen an einer Kette. Oder bunt wie ein Poesiealbum. Oder eine Hand voll mit Erfahrungen, Sehnsüchten und Widersprüchen. Weisheit pur und komprimiert. Szenen von Blindheit, falschen Blickrichtungen und der Gewissheit, dass ein guter Baum auch gute Früchte trägt.
Alles läuft auf die Erkenntnis zu: Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor. Dreimal taucht das Wort „gut“ auf! Der gute Mensch, der gute Schatz seines Herzens und dann wird das Gute sichtbar und kann bewundert werden.
Was von Jesus heute überliefert wird, ist so leicht und überzeugend, dass man nur „ja“ sagen kann. Schwer zu tragen haben wir daran nicht. Aber wir lernen, weit zu sehen!
Stadt der Blinden
1995 erscheint ein Roman. José Saramago hat ihn geschrieben. In portugisischer Sprache. Der Originaltitel: Essay über die Blindheit. Als der Roman übersetzt in Deutschland 1997 auftaucht, trägt er den Titel: Stadt der Blinden. 1998 erhält der meisterhafte Autor den Nobelpreis für Literatur.
Die Geschichte, die Saramago erzählt, ist unheimlich, dunkel, tastend: sie beginnt an einer Kreuzung, als ein Autofahrer plötzlich erblindet. Nach und nach ereilt alle Leute, die in seiner unmittelbaren Umgebung waren, das gleiche Schicksal. Es gibt keine Erklärung für die plötzliche Erblindung so vieler unterschiedlicher Menschen, geschweige denn ein Heilmittel gegen die Krankheit. Alles ist zufällig.
Als die Blindheit immer weiter fortschreitet, stellt die ratlose Regierung die Erkrankten in einem verlassenen Irrenhaus unter Quarantäne, um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden. Sie werden von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, jeden Fliehenden zu erschießen. In der Außenwelt aber erblinden immer mehr Menschen und die Anstalt füllt sich. Bald häuft sich der Schmutz, und es herrschen Aggression und Gewalt, was darin gipfelt, dass eine Gruppe Blinder die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung übernimmt, um die anderen Insassen materiell und körperlich auszubeuten.
Mitten in all dem Chaos gibt es eine Frau, die sehen kann. Nach schrecklichen Szenen schart sie eine kleine Gruppe um sich, mit der sie zurück in die Stadt geht. Inzwischen sind alle Menschen erblindet, es herrschen unmenschliche Umstände, auf den Straßen türmt sich der Dreck. Strom oder fließendes Wasser gibt es nicht mehr und Scharen von Blinden suchen verzweifelt nach Lebensmitteln und Obdach. Viele von ihnen finden den Tod. Der Frau gelingt es, mit ihrer Sehkraft das Überleben der Gruppe zu sichern. Völlig überraschend erhält der als Erster erblindete Autofahrer sein Augenlicht zurück. Nach und nach können alle wieder sehen.
Blindheit des Herzens
Im gesamten Roman wird kein Name genannt, weder einer der Personen, noch der Stadt, des Landes etc. Alles ist anonym. Samarago erzählt eine Geschichte, die überall spielen kann. Klugheit und Dummheit verwischen sich. Was vertraut war, kippt. Blindheit steht für die Unfähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden. Saramago spricht mehrfach von der „Blindheit des Herzens“. Einmal heißt es: „ ... bitte fragt mich nicht, was das Gute und was das Böse ist, wir wussten es immer, als die Blindheit noch eine Ausnahme war ...“ Doch die Opfer von Willkür und Gewalt werden in einer blinden Welt noch sichtbarer als je zuvor. Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit treten aus dem Dunkel hervor. Sie offenbaren sich. Alles Weitere könnten Sie nachlesen. Und mit den Augen von Sehenden in eine blinde – oder verblendete - Welt eintauchen.
Augen des Herzens
Der gute Mensch hat nicht nur Augen im Kopf, er hat Augen des Herzens. Jesus spielt das in zwei Szenen durch: ein Blinder führt doch keinen Blinden – und: wer einen Balken im Auge hat, kann keinen Splitter im Auge eines anderen Menschen suchen. Sehr eindrückliche Bilder sind das, längst zu Sprichwörtern geronnen. Es geht um ein gutes Sehen! Auf das eigene Leben, in die Gesichter anderer Menschen. Ob das schon der gute Schatz des Herzens ist? Der gute Schatz des Herzens werden kann?
Dass ein Blinder keinen Blinden führen kann, leuchtet auf Anhieb ein. Wo das wohl hinführte, wenn er es täte? Dann verheddern sich gleich zwei Menschen und fallen aufeinander, übereinander. Anschließend finden sie sich noch schlechter zu Recht als vorher. Ich höre sie grummeln: Wo sind wir denn jetzt? Was war das? Doch wie so oft können auch Menschen, die gut sehen und alles im Blick haben, blind sein. Blind für die Sorgen und Ängste von Menschen, blind für den Hass, der sich hinter vernünftigen Gründen versteckt, blind für die Wahrheit, die unter fake news begraben wird. Dafür gibt es keinen Augenarzt und auch keine Medizin. Doch entsetzt sehen wir Blinde in den Abgrund fallen, wir sehen gar Blinde Blinde ins Unheil führen.
Splitter und Balken
Dann erzählt Jesus von den Splittern, die Menschen im Auge eines anderen Menschen penibel suchen, ohne den Balken wahrzunehmen, der ihre eigenen Augen so ausfüllt, dass sie überhaupt nichts mehr sehen können. Blindsein – heißt das! Das Missverhältnis „Splitter“ – „Balken“ ist so groß, dass ein Mensch förmlich darüber fallen muss. Was gemeint ist, ist auch einsichtig! Wenn Fehler, dann bei den anderen! Und: sie werden gesucht. Sie werden ausgeweidet. Sie werden, wenn es sein muss, aufgebauscht. Realität? Realität ist, was wir daraus machen! Notfalls muss sie stimmig gemacht werden. Das ist dann auch nicht unwichtig, wenn später noch ein Strick gedreht werden muss. Oder eine Falle zu stellen ist. Der Splitter, von dem Jesus spricht, ist sprichwörtlich geworden. Der Balken auch. Nur: Nehmen wir Jesus ernst, ruhen alle Blicke auf unsere Balken! Auf unsere Augen! Und dann können wir die Splitter nicht einmal finden, weil unsere Augen verschlossen sind. Weil wir blind sind! Aber unsere tollen Augen bewundern.
Die Welt neu sehen
Ob das so aufgeht? Wenn ich eigene Fehler, eigene Schwächen, eigene Schuld wahrnehme, kann ich dem anderen Menschen offen in die Augen schauen. Vielleicht sehe ich dann einen Splitter. Er wird im anderen Auge wehtun. Dann können wir barmherzig sein. Dann können wir sehend werden. Eben: gemeinsam. Füreinander und miteinander. In dem weisheitlichen Wort Jesu liegt eine große Verheißung. Dass wir mit unseren Augen die Welt noch einmal neu sehen!
Sprüche sind immer kurz. Sie vertragen keine großen Worte. In kleinen Sätzen enthüllt sich eine ganze Welt! Es fällt auf, dass sämtliche Differenzierungen fehlen – in voller Wucht stürmen Eindrücke auf uns ein. Mehr noch: Uns gehen die Augen auf.
In allen Sprüchen geht es um ein Missverhältnis. Um das Missverhältnis, sich selbst nicht richtig wahrzunehmen, aber den anderen Menschen klein zu machen, sich selbst auf hohem Ross zu wähnen, aber den anderen Menschen vor sich herzutreiben, sich selbst zu schonen, aber den anderen Menschen schuldig zu sprechen. Sie haben längst gemerkt: so sieht Blindheit aus. Was daraus folgt? Wir gehen, wir führen in die Irre. Wir geraten in ein Niemandsland. Wir stürzen ab. Was wir so gerne anderen attestieren, wird uns, einem Schleier gleich, vom Gesicht genommen. Blind? Selbstverliebt? Verklärt?
Alles läuft auf die Erkenntnis zu: Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor. Dreimal taucht das Wort „gut“ auf! Der gute Mensch, der gute Schatz seines Herzens und dann wird das Gute sichtbar und kann bewundert werden.
Was am Schluss noch zu sagen ist?
Den guten Schatz unseres Herzens hat Gott mit seinen Schätzen gefüllt.
Er lasse sein Angesicht über uns leuchten…
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Katholische Bibelwerke (2022)