Unterschiedliche Sichtweisen und Zugänge
Die Urlaubszeit nutzen viele, um sich einen Tapetenwechsel zu gönnen und wegzufahren. Neben dem Ausschlafen und Entspannen gehören oftmals auch Ausflüge und Besichtigungen zum Urlaubsprogramm.
Wer schon einmal in Rom gewesen ist, hat bestimmt auch eine der Kirchen in der Nähe des Kollosseums besucht: San Pietro in Vinculi. Namensgebend für die Kirche sind die Ketten, die in einem Glasbehälter unter dem Altar aufbewahrt werden. Mit ihnen soll der Heilige Petrus bei einer seiner Gefangenschaft gefesselt worden sein.
In dieser Kirche findet sich eines der meistbestaunten Werke des großen Michelangelo: Die Statue des Moses, die ihn in dem Augenblick zeigt, als er nach seiner Rückkehr vom Berg Sinai das Volk Israel beim Tanz um das Goldene Kalb auffindet. Die Tafel mit den 10 Geboten noch in der Hand, blickt er sitzend und ziemlich grimmig auf sein Volk. Neben der fantastischen bildhauerischen Qualität dieser Statue gibt es aber eine Besonderheit: Auf dem Kopf des Mose befinden sich zwei Hörner, denn die lateinische Bibelübersetzung, die zur Zeit des Michelangelos gelesen wurde, hatte hier einen Begriff falsch übersetzt: Sein Kopf müsste eigentlich von Strahlen umgeben sein. Die lateinische Bibel sprach aber von Hörnern. Eine kleine Ursache mit einer großen Wirkung.
Solche Missverständnisse kommen in der Auslegung der Bibel nicht selten vor. Und haben ihre Ursache in der Regel auch nicht in Übersetzungsfehlern. Denn jeder und jede von uns liest die Texte der Bibel zunächst einmal mit seiner eigenen, persönlichen Brille. Dazu gehört das persönliche Gottesbild, das sich jemand im Laufe meines Lebens von Gott gemacht hat: Geprägt durch Predigten und Religionsunterricht, durch die Erziehung im Elternhaus oder durch Gespräche in der Familie, mit Freunden oder in der Gemeinde; auch durch Medien oder durch Bücher, die jemand gelesen oder Filme, die er oder sie gesehen hat.
Dazu gehören meine persönlichen Gotteserfahrungen. Aber auch meine Zweifel und Fragen. Schicksalsschläge und Leid, das ich durchlitten habe. All das prägt mein Zugehen auf die biblischen Texte, meine Art sie zu lesen und zu hören.
Jesus redet in Gleichnissen vom Himmelreich
Wir haben an den letzten Sonntagen in den Texten des Evangeliums viele Gleichnisse gehört. Der Evangelist Matthäus hat sie in einem eigenen Kapitel zusammengeführt. Mit dem heutigen Text wird dieser Abschnitt beendet.
Jedes Gleichnis wird mit dem Satz eingeleitet: „Mit dem Himmelreich ist es wie mit …“! Jesus weiß, dass seine Jünger und viele seiner Zuhörer - ähnlich wie es uns beim Gottesbild ergeht - schon ein bestimmtes Verständnis und bestimmte Vorstellungen vom Himmelreich haben. Denn der Gedanke des „Himmelreiches“ ist für seine Jünger und Zuhörer bei Weitem nicht neu. Deshalb illustriert Jesus in seinen Gleichnissen auf anschauliche Weise seine Vorstellungen vom »Reich Gottes«. Eine Vorstellung, die nicht unbedingt mit der seine Jünger übereinstimmt, die aber zentral für seine Botschaft ist.
Deshalb stellt er am Ende seiner Gleichnisreden die entscheidende Frage an seine Jünger: „Habt ihr alles verstanden?“ Denn erst dann gleichen sie einem Hausherren, der aus seinem Vorrat Neues und Altes hervorholt.
Habt ihr alles verstanden?
Habt ihr alles verstanden? Oder verstellen uns vielleicht unsere persönlichen Sichtweisen in ähnlicher Weise den Blick auf die Botschaft des Herrn? Wie lässt sich das Verständnis Jesu beschreiben? Er erzählt von einem Gott, dessen Botschaft allen Menschen gilt. Deshalb sät er sein Wort nicht nur über dem guten Boden aus, sondern wirft den Samen auch auf den Weg, auf felsigen Boden und unter die Sträucher und die Dornen. Er hat dabei großes Vertrauen und große Zuversicht: Es muss ja nicht jedes Korn von den Vögeln aufgepickt werden. Es gibt auch Pflanzen, die Frucht bringen, obwohl sie nur kurze Wurzeln haben. Und die leckeren Himbeeren und Brombeeren, die wir demnächst ernten können, wachsen ja bekanntermaßen gerade in Dornen und im Gebüsch. Es muss auch nicht jeder ein Hundertprozentiger sein. Der Herr ist auch mit dreißig oder sechzig Prozent schon zufrieden.
Viele Bereiche unseres Lebens sind von ökonomischen Kriterien geprägt. Wer möglichst erfolgreich seine Arbeitsaufgaben bewältigt, bekommt im Mitarbeitergespräch die entsprechenden Punkte, um mit einer Gehaltserhöhung rechnen zu können. Musikunterricht oder Religion können ruhig auch monatelang ausfallen. Viele Eltern werden erst dann nervös, wenn Mathematik oder Physik über längere Zeit nicht unterrichtet werden. Wir sind es gewohnt, an unseren Fehlern zu arbeiten und unsere Stärken zu pflegen. Das ist ja für bestimmte Lebensreiche auch gut so. Für das Wachsen des Gottesreiches gelten allerdings, so hat es uns Christus in seinen Gleichnissen gelehrt, andere Regeln. Hier darf erst einmal alles wachsen: Die Saat, aber auch das Unkraut. Erst bei der Ernte wird entschieden, was wirklich gute Saat oder eben „nur“ Unkraut ist. Und wir wissen seit Tod und Auferstehung Christi, dass er deshalb gestorben ist, damit auch das „Unkraut“ gerettet wird.
Der Herr hat uns gelehrt, dass der Wert eines Menschen nicht von der Größe seiner Taten abhängt. Jeder und jede ist für das Kommen des Gottesreiches wichtig. Selbst dann, wenn mein Beitrag nur die Größe eines Senfkornes hat. Gerade daraus kann Gott einen Baum wachsen lassen, der alle anderen überragt und in dem die Vögel des Himmels ihre Nester bauen.
Das Geheimnis des Himmelreiches, so wie es Jesus versteht, besteht im Glauben an einen solchen liebenden und menschenfreundlichen Gott. Ein Gott voller Langmut und Güte, dessen Liebe allen Menschen gilt, der auch aus dreißig Prozent oder einem Senfkorn Großes machen kann, der Geduld mit uns hat bis ans Ende und erst dann sein Urteil spricht. Und dessen Urteil wesentlich davon bestimmt sein wird, dass die Sühne für all unsere Sünden schon durch den Kreuzestod und die Auferstehung seines Sohnes abgegolten ist.
Bleibt also zum Schluss die Frage des Herrn: Habt ihr das alles verstanden? Die Jünger damals antworteten dem Herrn mit „Ja“!