Zum Lieben geboren
Vom englischen Schriftsteller und Staatsmann Benjamin Disraeli (1804-1881) ist der Satz überliefert: "Wir sind alle zum Lieben geboren. Es ist der Sinn unseres Seins und sein einziger Zweck". Vom heiligen Franz von Sales (1567-1622) kennen wir das Wort: "Ich liebe und werde geliebt, also bin ich."
Der Schriftgelehrte des heutigen Evangeliums sagt, Gott lieben und den Nächsten sei "weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer". Der Evangelist Markus merkt an: "Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte". War für die Juden nicht der Tempel mit seiner Opferpraxis ganz, ganz wichtig? Doch Gott lieben und den Nächsten ist "weit" wichtiger! Darin sind sich dieser Schriftgelehrte und Jesus einig!
Karl Matthias Schmidt (*1970), katholischer Bibelwissenschaftler in Gießen, kommentiert unseren Text so: "Anstelle eines opferzentrierten Ethos rückt der Text die menschliche Identität in den Mittelpunk; er fragt nach dem gelungenen Sein des Menschen, der in Gottes-und Nächstenliebe seine Bestimmung entfaltet" (nach: <link http: www.perikopen.de>www.perikopen.de, 31. Sonntag im Jahreskreis B).
Welche Liebe?
Ja: Lieben macht unser Leben aus! Liebe macht uns zu Menschen. Aber welche Liebe?
Es geht um die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, in dieser Reihenfolge, auch wenn sie zusammengehören, auch wenn die eine Liebe nicht ohne die andere sein kann. Die Nächstenliebe wird "als zweites" gesehen, d.h. im Blick auf die Gottesliebe und als Konsequenz aus der Gottesliebe.
Wie geht das: Gott lieben? "Das erste ist: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr". "Höre Israel": Das "Schema Israel" ist der Text, "den der gläubige Jude täglich rezitierte, der als Tefillin auf Stirn und Arm gebunden und in der Mesusa an die Türpfosten geheftet wurde" (K. M. Schmidt, a.a.O.).
Die Gottesliebe setzt voraus, dass ich von Gott gehört habe, von seinem Handeln an Israel, von seiner Liebe und seiner immer neuen Zuwendung zu den Menschen. Gott lieben beginnt damit, dass ich auf Gott höre! Die Bibel wird nicht müde, von den Menschen zu berichten, die auf Gott gehört haben, freilich auch von denen, die nicht auf Gott gehört haben. Bei Menschen, die auf Gott gehört haben, denke ich an Noah, Abraham, Mose, Josua, die Prophetin Debora, Jesaja, den Gottesknecht vom Zweiten Jesaja-Buch, Jeremia, Ijob, Maria, Josef. Und die Kirche stellt uns unentwegt Heilige und Selige vor: Menschen, die auf Gott gehört haben, die bezeugen, dass sie Gottes Liebe erfahren haben. Wir kennen sicher auch ganz persönlich Menschen, in denen wir etwas vom Durchscheinen Gottes entdecken konnten. Vielleicht nehme ich sein Wirken auch in der Stille wahr, in mir, im Miteinander von gläubigen Menschen.
Auf Gott hören - und ihn als einzigen Gott anerkennen! Wie sagte Teresa von Avila? "Solo Dios basta", Gott allein genügt! Wenn ich Gott als Gott in den Blick nehme, wenn ich ihn als den in den Blick nehme, durch dessen Zuwendung die Welt und ich im Sein bin, ist klar, dass ich ihm nicht nur etwas von mir geben kann: Alles in mir, mein Selbst, mein Sein ist Antwort auf ihn hin, die Selbstauslieferung an ihn.
In der Antwort Jesu und der Bestätigung durch den Schriftgelehrten werden die Möglichkeiten des Liebens genannt: mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand, mit ganzer Kraft. Von innen her also, von der Seele her und allem, was sie beseelt, nichts ausgenommen!
Liebe ist Wertantwort! Im Lieben antworte ich auf einen Wert. Gott ist das, nein: der Wertvollste. Er ist meiner Liebe würdig. Das Unterscheiden zwischen Ihm und allem anderen gehört zur Gottesliebe: das Bewusstsein davon, worum es geht, wenn es um Gott geht. Lieben mit vollem Verstand, mit meinem 'Denken'! Unser Schriftgelehrter ist auf der Spur: Er kann unterscheiden. Er denkt richtig!
Aber auch das Empfinden, das 'Herz', gehört zur Liebe. Wenn ich zu Gott sage "Ich liebe dich", habe ich mich selbst auf der Zunge. Augustinus schreibt: "Der Preis deiner Liebe bist du selbst". Liebe ist Beziehung!
Und: Liebe ist Tun! Ein Tun "mit ganzer Kraft". Und da schließt das Wort an: den Nächsten lieben wie sich selbst. Gott lieben zeigt sich in der Liebe zum Nächsten. Ich kann nicht Gott lieben und den aus meiner Zuwendung ausklammern, den Gott wie mich liebt. Es gehört zur Gottesliebe, mit Gott mitzulieben.
Die Liebe zum Nächsten wird durch den Zusatz "wie sich selbst" gekennzeichnet. Wenn ich wissen will, wie Nächstenliebe geht, kann ich mich fragen: Was täte mir gut, wenn ich an der Stelle des anderen wäre, in seinen Schuhen, in seiner Haut? Was tut denen gut, die ich heute treffe?
Liebe verändert
Wenn ich mich auf solches Lieben einlasse, verändert sich mein Leben. Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662), der versucht hat, das Christsein voll auszutesten, schrieb: "Wenn wir lieben, erscheinen wir uns selbst anders als wir früher gewesen."
Und wenn wir jetzt das Gedächtnis Jesu feiern, uns dabei Ihm öffnen, auf Ihn hören, Ihm antworten, Ihn in uns wirken lassen, sind wir "nicht fern vom Reich Gottes" (Mk 12,34).
Johann Pock (2000)