Lesung aus dem Buch Genesis.
Gott, der HERR, formte den Menschen,
Staub vom Erdboden,
und blies in seine Nase den Lebensatem.
So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.
Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten
und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.
Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen,
begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen,
in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens
und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes,
die Gott, der HERR, gemacht hatte.
Sie sagte zu der Frau:
Hat Gott wirklich gesagt:
Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?
Die Frau entgegnete der Schlange:
Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;
nur von den Früchten des Baumes,
der in der Mitte des Gartens steht,
hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen
und daran dürft ihr nicht rühren,
sonst werdet ihr sterben.
Darauf sagte die Schlange zur Frau:
Nein, ihr werdet nicht sterben.
Gott weiß vielmehr:
Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf;
ihr werdet wie Gott
und erkennt Gut und Böse.
Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen,
dass der Baum eine Augenweide war
und begehrenswert war, um klug zu werden.
Sie nahm von seinen Früchten und aß;
sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war,
und auch er aß.
Da gingen beiden die Augen auf
und sie erkannten, dass sie nackt waren.
Sie hefteten Feigenblätter zusammen
und machten sich einen Schurz.
Die alttestamentliche Perikope stammt aus dem zweiten aber älteren Schöpfungsbericht und erzählt vom sog. Sündenfall des Menschen. Dieser Sündenfall hat zur Folge, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde, weil er dessen Grenzen missachtet hat. Dort war ihm ein einfaches Leben geboten, weil alles Lebensnotwendige vorhanden war. Fortan musste er sich seinen Lebensunterhalt erarbeiten durch die Arbeit in der Landwirtschaft. Vor allem aber war er nun der Sterblichkeit verfallen.
Adam gilt als der erste Mensch. Aber wenn klar wird, dass der Name Adam nichts anderes heißt als Mensch, dann wird in dieser Geschichte nicht die Geschichte des ersten Menschen erzählt, sondern die Geschichte der Menschen, Menschheitsgeschichte sozusagen. Jedermann wäre auch nicht schlecht...
Die Paradieserzählung wird gemeinhin zur Urgeschichte gezählt. Aber der Begriff ist unklar, weil die Urgeschichte sich nicht linear einordnen und in die Vorgeschichte verbannen lässt. Die Jetztzeit trägt Züge der Urzeit, die Urzeit selbst ist Teil jeder Zeit. Die Urgeschichte, wie sie in Gen 1 bis 11 (mit sehr verschiedenen Tönen und doch einem erkennbaren cantus firmus) vorliegt, erzählt von dem, was typisch ist für die Schöpfung Gottes, typisch auch für den Menschen, der sich aufmacht, das Fürchten zu lernen. Der die Unschuld verliert. Die Freiheit im Gebüsch versteckt.
Die Unterstellung ist: Gott verbietet etwas. Gott will etwas für sich behalten. Gott will dies nicht teilen ... und bis heute denken Menschen, wenn ihnen Religion (oder was sie dafür halten) begegnet, an Verbote und Unmündigkeit. Aber die Menschen haben Gott als Gebenden kennen gelernt. Der Garten ist von ihm. Den Menschen wird anvertraut, ihn zu bebauen und zu bewahren. Eine Vertrauensstellung par excellance.
Das Verbot, von dem Baum der Erkenntnis zu essen, schützt den Menschen auch davor, den Garten verkommen zu lassen oder ihn zu zerstören - und sich gleich mit. Denn die Erkenntnis von gut und böse ist keine denkerische Möglichkeit, keine akademische Diskussion oder ein Spiel mit Alternativen. Die Erkenntnis von gut und böse setzt die Erfahrung voraus, durch eigene Schuld das Paradies, die Unschuld und die Freiheit zu verlieren.
Die erste Frucht der Erkenntnis von gut und böse ist die Nacktheit. Erst sind es Schürze aus Feigenblätter, die schützen, später müssen es Waffen und Medienkampagnen sein. Angesichts der Nacktheit, die aber nichts davon offenbart, was in den Köpfen vorgeht oder hinter den Worten steckt, suchen Menschen Schutz. Sie sichern sich gegen den anderen. Sie sind ständig auf Suche nach Motiven. Sie analysieren Sätze, aber auch, was nicht gesagt wurde. Sie trennen objektiv und subjektiv. Nehmen Güterabwägungen vor. Und trauern, dass es keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt.
In dieser Lesung wird eine Geschichte vorgetragen, die fast jeder Mensch kennt und die doch vielen unverständlich geblieben ist: Die Erzählung von der Erschaffung des Menschen und seines Ungehorsams gegenüber seinem Schöpfer.
Das 2. und 3. Kapitel des Buches Genesis wollen nicht historisch verstanden werden. Sie suchen nach einer Antwort, warum der Mensch so ist, wie er ist. Woher kommt seine Sehnsucht nach einer heilen Welt, obwohl er die Welt als unheil erlebt? Die beiden Kapitel wollen nebeneinander und nicht nacheinander gelesen werden. Genesis 2 erzählt, wie die Welt sein könnte und sein sollte, Genesis 3, wie sie tatsächlich ist und warum sie so ist.
Der ursprüngliche Text enthält ein dreifaches Wortspiel, das in der Übersetzung und auch im Bewußtsein der meisten Menschen verloren gegangen ist. Der Mensch (adam) wird aus dem Ackerboden (adamah) geformt. Noch ist nicht vom Mann die Rede. Adam müßte besser mit "Erdling" übersetzt werden. Vom Mann (iš) ist erst nach der Erschaffung der Frau (iššah) die Rede. Mit Adam ist der Mensch schlechthin, die ganze Menschheit, gemeint. Die Geschichte erzählt also, wie der Mensch ist: erdhaft und zugleich vom Lebensatem Gottes beseelt, Gott sorgt für ihn.
Das 3. Kapitel erzählt meisterhaft von der Verführung des Menschen durch die Schlange zum Ungehorsam gegenüber seinem Schöpfer. Auch hier bedient sich der Verfasser eines Wortspiels: Das 2. Kapitel endet mit der Feststellung, daß die Menschen nackt (arom) waren, sich aber nicht voreinander schämten. Das 3. Kapitel beginnt mit der Vorstellung der Schlange als klug (arum), klüger als alle Tiere des Feldes. Die Menschen essen gegen das Gebot ihres Schöpfers, um klug und weise zu werden, erkennen aber, nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen haben, daß sie nackt sind.
Die Erzählung enthält viele Momente, die auch in anderen Kulturen und Religionen vorkommen und in allen Mythologien eine wichtige Rolle spielen: die Erde, der Baum des Lebens, die Schlange als Symbol der Klugheit und Weisheit, die Frau als Symbol der Fruchtbarkeit (Mutter alles Lebendigen)... Der biblische Verfasser übernimmt diese Elemente aus seiner Umwelt und setzt im Nacherzählen seine eigenen theologischen Akzente.
Martin Stewen (2011)
Manfred Wussow (2005)
Hans Hütter (1996)