Kluge Frage
Gelehrte stellen doch immer kluge Fragen, sage ich mir. Ist das hier eine kluge Frage? „Und wer ist mein Nächster?“ So dumm ist die Frage jedenfalls nicht, wie ich erst dachte - weil es sich tatsächlich nicht von selbst versteht, wer denn der Nächste ist – jede? Jeder? Wirklich jeder? Da ist das Schema „Freund – Feind“ schon einfacher zu handhaben. Wer liegt mir näher? Näher als...? Was ist überhaupt naheliegender? Schließlich ist das Hemd mir auch immer näher als die Jacke.
Vermutlich ahnen - oder fürchten Sie, dass wieder eine Predigt über Nächstenliebe dran ist. Schon wieder! Den erhobenen (wenn auch dezent versteckten) Zeigefinger mögen Sie nicht mehr sehen...
Aber lesen wir einmal die Geschichte von ihrem Ende her. Da wacht ein Mensch auf. Fremde Umgebung, fremde Stimmen. Ein Mensch sieht nach ihm. Was ist denn passiert? Wie komme ich hierher? Er schaut sich um, er hört das Knobeln draußen, Rauch liegt in der Luft: Er ist in einer Gaststätte. Der sich an sein Bett setzt, riecht wie ein Wirt. Der Kopf dröhnt. Alles tut weh. Langsam kommt die Erinnerung wieder. Da war doch diese schreckliche Wegstrecke. Weit ab vom Schuss. Es ging alles so schnell. Fast tot geschlagen, beraubt, an den Straßenrand geschmissen. Ab da an – Filmriss. Der Mann reibt sich die Augen, tastet sein Gesicht ab, fährt sich durch die strähnigen Haare. Kein Mensch weiß, wo er ist. Ob man schon nach ihm sucht? Ihn aufgegeben hat? Die Gedanken jagen sich. Er versucht, sich zu setzen. Es geht nicht. Bleib liegen, sagt der Wirt. Hauptsache, du lebst! Was ist mit mir, fragt der Mann. Und der Wirt erzählt: Ein Samariter auf der Durchreise hat dich gefunden, versorgt, dich hierher gebracht. Er hat auch schon für dich gezahlt. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Schlaf wieder!
Der Mann hat seinen Retter nie mehr gesehen, seinen Namen nicht erfahren, nie Danke sagen können. Das Leben ist ihm neu geschenkt worden. Von einem, dem er es nie zugetraut hätte.
Der unbekannte Fremde
Wer war denn dieser Samariter? Was hat er in dieser Gegend gemacht? Hatte er nicht Angst, auch überfallen zu werden? Auf diesem schrecklichen und einsamen Weg. Er ist einfach weg.
Zugegeben: Große Taten werden von uns Menschen mit Namen verbunden. Zu dem Namen gehört ein Gesicht. Gesichter lassen sich zu Denkmälern formen. Gesichter können abgebildet werden. Gesichter werden wieder erkannt.
Nur: Der barmherzige Samariter hat keinen Namen. Ihm fehlt das Gesicht. Was von ihm übrig bleibt, ist seine Herkunft: Samariter. Ein Fremder. Menschen fürchten sich vor seinen Gedanken, Überlieferungen und Erinnerungen. Samariter! Ein Schimpfwort! Nicht einmal das Wort mochte man in den Mund nehmen. Die Trennung sollte für die Ewigkeit sein. Am Ende aber wussten die Menschen nicht einmal mehr die Gründe anzugeben, warum Juden und Samariter sich nicht riechen konnten. Angeblich: sie hatten den richtigen Glauben nicht. Sie – das sind dann immer die anderen. Das lässt sich wie ein Kreisel aufsetzen. Eine komische Geschichte, die sich bis heute wiederholt. Und die gar nicht komisch ist!
Dass heute ein Wohlklang auf diesem Wort „Samariter“ liegt, hat Jesus mit einer einfachen Geschichte auf den Weg gebracht: Der Samariter wendet sich dem Überfallenen zu. Liebevoll erzählt Jesus sogar die Einzelheiten. Es jammert ihn! Er geht zu ihm hin! Er versorgt die Wunden und verbindet sie! Er hebt ihn auf! Er bringt ihn in eine Herberge! Er pflegt ihn! Er zahlt für ihn! Bevor er einfach aus dieser Geschichte – verschwindet.
Der Samariter hat „gesehen“. In diesem Wort geht jetzt der Himmel auf. „Gesehen“. Das ist nicht nur die Kunst der Augen – hier geht das Herz auf.
Grenzen? Der barmherzige Samariter geht über sie hinweg, hinaus...
Angst vor Überlieferungen und Erinnerungen? Der barmherzige Samariter fängt neu an – jetzt wachsen neue Überlieferungen und Erinnerungen...
Trennung für die Ewigkeit? Der barmherzige Samariter tut, was jetzt zu tun ist. Dann gibt es eine neue Ewigkeit!
Barmherzigkeit ist, wenn ein Mensch dem anderen zum Nächsten wird. Die Frage, wer denn mein Nächster ist, verwandelt sich stillschweigend in eine andere, bessere: Wem bin ich Nächster?
Intellektuelle Herausforderung
Jesus, der die Geschichte erzählt, wird herausgefordert. Ein Schriftgelehrter fordert ihn. Lukas formuliert sogar: stellt ihn auf die Probe. „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben zu gewinnen.“ Wenn es darum geht, was ich „tun“ muss, helfen auch Gelehrsamkeit, Erfahrung und Ansehen nicht. Was ich „tun“ muss, steht auch in keinem Buch, auf keiner Internetseite, findet sich nicht einmal in meinem Kopf. - Ich muss auch alleine sterben.
Jesus erinnert den Schriftgelehrten, der ihn mit Meister anredet, an das, was „geschrieben“ ist. Das ist dann auch schnell zitiert. Einwände sind nicht zu erwarten. Gemeinsame Meinung eben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Das höchste Gebot, sagt man. Es fasst alles zusammen. Immer wieder heißt es: „ganz“, ganzes Herz, ganze Seele, alle Kräfte, ganzes Gemüt. Der ganze Mensch soll Gott ungeteilt lieben – und den Nächsten wie sich selbst.
Die Schriftgelehrten unter sich wissen: Gott hat auch ganz und gar seine Majestät, Größe und Herrlichkeit seinem Volk zugewandt, Gott hat sich an Menschen gebunden, sich in seiner Freiheit festgelegt. Gott hat alles gegeben! Sich selbst! Er hat nichts für sich zurückbehalten, reserviert oder versteckt. Ganz! Alles! Jesus sagt darum auch: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Der Schriftgelehrte hört aufmerksam zu. Ob er wohl schluckte, als Jesus erzählt, dass Priester und Levit vorübergehen? Dabei immer betont: „und als er ihn sah“. Die beiden Herren sind nicht in Gedanken versunken. Sie sehen – und gehen vorüber. Sie übersehen. Sie sehen weg. Absichtlich. Nein, Beweggründe lässt Jesus nicht einmal zu. Sie haben „gesehen“. Aber sie verlieren auch alles – sie verlieren sich selbst.
Doch: „Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin...“
Als die Geschichte endet, sind die alten Pfade und Denkmuster auf einmal weg. Das alte Schema „Freund – Feind“ löst sich tatsächlich in Wohlgefallen auf. In Wohlgefallen! Der Schriftgelehrte bekommt nicht einmal die Möglichkeit, die alten Argumente wieder auszubreiten. Eine Frage bestimmt Richtung und Zielt: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Nur eine Antwort ist möglich. Nach den Gesetzen der Logik ebenso wie nach dem Lauf der Geschichte: Der die Barmherzigkeit an ihm tat!
Wer fragt: "Wer ist mein Nächster?", fragt auch: Wer ist es nicht. Und lässt sich Türen offen. Entscheidet von Fall zu Fall. Formuliert Bedingungen. Wäre denn nach alter Lesart ein Samariter mein Nächster? Ich schau dann mal ... Dem Schriftgelehrten müsste das gleich aufgefallen sein.
Wer sich fragt: "Wem bin ich Nächster?", findet sich in einer Beziehung vor, die gegeben ist. Ich kann schuldig werden, mich verantworten, einen neuen Anfang wagen. Aber eins kann ich nicht: Mich heraushalten, mich hinter Ausreden verbergen, mich frei sprechen. Vor allem: Der Nächste steht nicht zur Wahl. Das geht dem Schriftgelehrten dann wohl auch auf.
Das höchste Gebot selbst birgt eine große Geschichte in sich: Gott ist dir Nächster geworden. Er hat dich gesehen und sich in dich verliebt. Er kann dich nicht mehr lassen.
Eine neue Geschichte
Darf ich hinten aufhören? Da, wo die Geschichte ihr Ziel erreicht hat? Als der, der unter die Räuber gefallen war, geheilt die Gaststätte verlässt, erzählt er allen, was ihm passiert war. Wie ein verlorener Sohn kommt er nach Hause. Ein Samariter sei es gewesen, der ihm das Leben gerettet habe, erzählt er. Mehr weiß er nicht. Die Leute sehen ihn an, sehen sich an. Ein Samariter? Ich höre das Raunen: was, ein Samariter?
Übrigens: Von Priester und Levit weiß der Mann nichts. Einer aber hat gesehen, dass sie „sahen“, aber der hat nichts verraten. Dem Mann nicht – uns aber. Wozu das wohl gut ist?
In einer mittelalterlichen Bibelillustration – nicht nur für die Leute, die nicht lesen können – wird die Geschichte vom barmherzigen Samariter so dargestellt: Der Levit – ein Mönch / der Samariter – ein Türke. Der Künstler kannte die Angst vor den Türken. Sie schickten sich an, das Abendland zu erobern. Sie standen schon vor der Tür. In der Bibelillustration aber bekommt ihr Bild neue, ungewohnte Züge. Jesus erzählt die Geschichte von dem barmherzigen Türken, der dem Christen zum Nächsten wird. Ich könnte das als Provokation sehen, der Illustrator hingegen zeichnet eine Alternative.
Der barmherzige Samariter hat sich entzogen. Er macht Platz für neue Geschichten. Sie beginnen alle damit, dass wir das „Sehen“ lernen. „So geh hin und tu desgleichen!“ Mit überraschenden Ausblicken, aufgelösten Vorurteilen und einer großen Barmherzigkeit . Und es geschieht ein Wunder: Ich bin – Nächster von! Den Namen – und die Geschichte – darf ich finden. Nicht wahr: kluge Leute stellen kluge Fragen!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.