Zu den tiefgreifenden Glaubenserfahrungen meines Lebens gehören die Momente, in denen ich während der letzten Jahre meiner Schulzeit vom Internat in die Ferien fuhr. Ich bekam selten einen konkreten Wunsch und nie eine Mahnung mit auf den Heimweg. Meist verabschiedete mich unsere Schwester Dominika mit den Worten: »Ich bete für dich.« Es hat eine Weile gedauert, bis ich in diesen Momenten nicht mehr irgendwie unbeholfen dastand.
Achtsamkeit und viel Augenkontakt; Zuhören; Respekt; zärtliche Gesten, eine Umarmung etwa; mahnende, aufmuntemde, tröstende Worte; das Daumendrücken für den Herzenswunsch; Gespräche, die die halbe Nacht dauerten; tatkräftige Unterstützung im (Schul-)Alltag - all das nicht ohne Strenge: Schwester Dominika kannte viele Weisen, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr sie an meinem, an unserem Leben Anteil nahm. So kannte sie uns alle wohl ziemlich gut. Auch mich. Früh hat sie meine religiöse Sehnsucht wahrgenommen, weise und aufmerksam und ebenso zurückhaltend. Sie beantwortete das auf schönste Weise, indem sie ganz einfach noch diesen anderen Raum für mich öffnete: ihr Gebet.
Das Gebet füreinander drückt die Anteilnahme am Ringen um die richtige Lebensspur in eigener Weise aus. Es ist nicht das gemeinsame Diskutieren, Planen, Suchen und Wünschen, das Nachdenken darüber, was falsch, was richtig sein könnte; auch nicht der Rückzug in fromme Gottergebenheit. Es ist eine andere Dimension des Mit-Lebens, die man hier betritt und jemandem öffnet: das Vertrauen in Gott, dem man das Lebensentscheidende zutraut. Wo es in Freiheit füreinander geschieht, bestimmen nicht eigene Wünsche, nicht eigene Lebensentwürfe das Gebet. Zunächst ist es vielleicht nur das: einen Menschen, der mir am Herzen liegt - oder sorgenvoll auf der Seele - zu Gott mitnehmen, damit auch sein Leben unter Gottes Augen aufblühen kann. Es ist eine Begegnung ohne Vor-Urteil, ein Mit-Gehen, ohne schon die »richtige« Lösung parat zu haben. Darum mochte ich eintreten in den Raum, der mir da geöffnet wurde: Glaubens-Raum, Hoffnungs-Raum einer um viele, viele Jahre älteren Schwester im Glauben, die sich eher hätte berauben lassen, als ihre Tür zu schließen - Glaubens-Raum, Hoffnungs-Raum darum auch für mich.
Räume, in denen ich mich nicht dagegen schützen muss, missbraucht zu werden. Räume, in denen Platz ist für die Suche und das lange Hinhören. Räume, die erst einmal die tastenden Schritte erlauben und das noch quälende Ringen um Zutrauen. Räume, in denen ich willkommen bin und so lange verweilen darf, bis ich selbst zu spüren beginne, was das für ein Weg ist, der sich da auftut unter meinen Füßen: hinein ins Leben, das mir von Gott zugedacht ist als »Leben in Fülle« (Joh 10,10). Räume, durch die hindurch ich hineinfinden und Zutrauen fassen kann in Gottes Verheißungen, so dass sie mir zum Versprechen werden, dem ich glauben - und schließlich selber dienen - kann. Räume, in denen Menschen ihre Zweifel und die übergroßen Fragen nicht verschweigen, ihren Glaubensmut und ihre Hoffnung teilen und sich gemeinsam hineinwagen in Gottes gute Herrschaft, die in all dem schon angefangen hat. Solche Räume sind Glaubens-Wachstums- Räume, auch deswegen, weil in ihnen die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in mein, in unser Alltagsleben einsickern kann. Sie öffnen sich nicht schon dort, wo lehramtlich und strukturell alles in Ordnung ist, wo Kirche (noch) »funktioniert«. Glau- bens-Wachstums-Räume entstehen aufgrund ihrer Lebens-Nähe, ihrer Zugänglichkeit, ihrer Wärme, ihrer Unmissverständlichkeit - und nicht zuletzt durch die Menschen, die ihre Türe offen halten. Hinter der Schwelle findet sich nicht selten »heiliger Boden«. Werden die, die für die gegenwärtige »Restrukturierung« der Bistümer in der Verantwortung stehen, das im Blick behalten?
Vera Krause, Dipl. Theol., Referentin für Bildung und Pastoral bei »Misereor«, Autorin, Kurs- und Vortragstätigkeit, Aachen,
In: Johannes Röser (HG.), Mein Glaube in Bewegung. Stellungnahmen aus Religion, Kultur und Politik. HerderVerlag, Freiburg Basel Wien 2008.
Martin Stewen (2011)
Marita Meister (1996)