Wenn Kinder fragen
Vor einigen Wochen hatte ich Besuch von einem jungen Paar, das ich vor einigen Jahren getraut habe und deren erstes Kind ich getauft habe. Die Tochter ist mittlerweile drei Jahre alt und neugierig auf alles, was immer es zu entdecken geben kann. Die Eltern erzählten mir, dass sie sich seit einiger Zeit dafür interessiert, was Sterben sei und dass sie versuchten, es ihr kindgemäß zu erklären, ohne ihr dabei Angst zu machen.
Als wir beim Kaffee beisammen saßen und plauderten, blickte mich nach einer Weile die Kleine von der Seite her an und fragte mich: "Wie alt bist Du?" Ich antwortete, dass ich bald 65 werde, und war mir dabei bewusst, dass sie sich unter dieser Zahl kaum etwas vorstellen kann. Gleich rückte sie noch mit einer zweiten Frage heraus: "Und warum bist du noch nicht gestorben?" Ich war zunächst von der Frage überrascht, den Eltern war es peinlich. Sie fürchteten, dass ihre Tochter mich in Verlegenheit brachte, und versuchten sich zu entschuldigen. Doch bald amüsierte es mich, und ich erklärte der kleinen Klara, dass ich noch zu gesund sei, um zu sterben, und dass ich noch gerne lebe.
Die folgenden Tage musste ich immer wieder an die Komik dieser Situation denken und ich stellte mir selbst die Frage: "Und warum bist du noch nicht gestorben?"
Meinen ältesten Bruder riss der Tod mit 55 mitten aus dem Leben. Einer meiner besten Freunde starb vor zwanzig Jahren mit 39 an einer unheilbaren Krankheit. Und ein Schulkamerad, neben dem ich vier Jahre lang in der Volksschule saß und mit dem ich auch befreundet war, nahm sich mit 17 das Leben.
Der Tod, ein ständiger Begleiter
Nach der Begegnung mit der kleinen Klara wurde mir immer wieder neu bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist zu leben und einigermaßen gesund zu sein. Mir wurde auch klar, dass ich aus der Perspektive der Dreijährigen dem voraussehbaren Tod schon sehr nahe bin.
Der Tod begleitet uns ein Leben lang wie ein Schatten. Wenn die Sonne in der Mitte des Tages ganz hoch steht, sehen wir nicht viel davon. Da liegt er unter uns und ist ganz kIein. In der Abendsonne jedoch erscheint er oft grotesk und beängstigend lang.
Der Tod macht Zeit wertvoll
Erst durch den Tod werden wir uns bewusst, wie kostbar das Geschenk des Lebens ist und wie wertvoll die Zeit, in der wir aus unserem Leben etwas machen können. In den ersten Lebensjahrzehnten sind wir damit beschäftigt, das Leben zu entdecken, die Geheimnisse der Schöpfung zu enträtseln und Zusammenhänge zu durchschauen. Mit zunehmenden Jahren beginnen wir, unser Leben zu gestalten, ihm Inhalt und Form zu geben. Und wir spüren, wir kurz die Zeit ist, die uns dafür zur Verfügung steht.
Vor einigen Jahren fiel mir ein Buch mit dem Titel "Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte" in die Hand. Der Psychotherapeut Thomas Schäfer beschreibt darin in der Art eines Märchens, dass es gar nicht so begehrenswert ist, so alt werden zu wollen. Erst dadurch, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, wird sie kostbar.
Zeit zu danken, Zeit zum Versöhnen
Der Tod konfrontiert uns aber auch mit der Frage, womit wir die uns gegebene Zeit füllen; welchen Inhalt und welchen Sinn wir unserem Leben geben. Am Allerseelentag stehen wir jenen Menschen gegenüber, deren Lebenszeit bereits zu Ende gegangen ist. Von einigen wissen wir, was ihr Leben erfüllt hat, was ihnen gelungen ist, was ihnen verwehrt blieb. Wir schauen mit Ehrfurcht und vielleicht auch mit Dankbarkeit auf sie. Manche haben uns vielleicht auch enttäuscht, sind uns etwas schuldig geblieben oder wir tragen ihnen etwas nach, was wir ihnen noch nicht vergeben konnten.
Der Allerselentag ist eine Gelegenheit, den Verstorbenen noch einmal danke zu sagen und ihnen unsere Liebe und Verbundenheit, vielleicht sogar unsere Bewunderung zu zeigen.
Der Allerseelentag ist aber auch eine Einladung zur Versöhnung, zum Vergeben, Frieden zu schließen. Ob und wie es den Verstorbenen nützt, wissen wir nicht. Uns selbst tut es auf jeden Fall gut, wenn wir uns versöhnt und unbelastet unserem Leben und der Zeit, die uns noch bleibt, zuwenden können. Ich persönlich bin überzeugt, dass es ihnen und auch mir nützt, und so führe ich manchmal Zwiegespräche mit ihnen.
Gott lässt nicht ver-enden, was er liebt
Der Tod konfrontiert uns aber auch noch umfassender mit der Sinnfrage: Was kommt danach? Gibt es ein Leben jenseits des Wahrnehmbaren? Wohin geht der Geist, wenn wir den toten Leib zu Grabe tragen? Wird er ausgelöscht, wie manche glauben?
Als Christen glauben wir an einen Schöpfer, der uns das Leben aus Liebe geschenkt hat. Es ist aus einem Akt der Liebe - zumindest von Seiten des Schöpfers - hervorgegangen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein liebender Gott fallen lässt, was er liebt. Jesus ist nicht müde geworden, uns von der Liebe eines guten Vaters im Himmel zu überzeugen. Menschliche Liebe kann unter Umständen erlöschen. In der Auferweckung Jesu hat Gott gezeigt, dass seine Liebe nicht erlischt, dass er nicht im Stich lässt, was er liebt.
So richtet sich unsere Hoffnung an diesem Tag ganz auf Gott: Er wird die Verstorbenen, mit denen wir uns verbunden fühlen, nicht zugrunde gehen lassen. Und er wird auch unser Leben nicht zu Ende sein lassen, wenn es mit uns einmal so weit sein wird.
Auch wenn mich die Begegnung mit Kindern daran erinnert, dass es nur mehr verhältnismäßig wenige Jahre sind, die ich nach menschlichem Ermessen erleben werde, ängstigt mich das nicht, denn ich erwarte, meinem liebenden Schöpfer zu begegnen.