In meiner Heimat ist es Brauch, dass die Pfarrgemeinde einem Neupriester, wenn er heimkommt, um mit seiner Herkunftsgemeinde seinen ersten Gottesdienst zu feiern, einen großartigen Empfang bereitet. Das wird zu einem Ereignis, an dem die Kirche nicht alle Menschen fassen kann, die daran teilnehmen möchten. Ein fester Bestandteil dieses "Primizeinzugs" ist die erste Ansprache des Neugeweihten. Mit viel Wohlwollen und mit noch größerer Neugierde lauschen die Leute seinen Worten und fällen ein erstes Urteil, wie gut er predigen kann.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie hilfreich so ein Empfangsteppich aus Wohlwollen und mentaler Unterstützung am Anfang meines Berufsweges war. Mir war aber auch klar, dass dies nicht immer so bleiben konnte. Mit herzlichem Wohlwollen und Vertrauensvorschuss wurde ich auch später in den Gemeinden aufgenommen, in denen ich tätig war. Dieses hielt zumindest solange an, als ich die wichtigsten Erwartungen an einen Seelsorger erfüllte. Daneben machte ich aber auch noch die Erfahrung: Wenn ich die spirituellen und religiösen Bedürfnisse mancher Kreise nicht bediente, können sogar fromme Christen garstig bis hinterhältig werden.
Warum so aggressiv, Jesus?
Als wir den Text des heutigen Evangeliums vor einigen Wochen in einer Bibelrunde lasen, drängte sich einem Teilnehmer die Frage auf: Jesus, warum reagierst du so aggressiv? Was begehrst du mehr? Deine Mitbürger nehmen dich wohlwollend und herzlich auf. Sie sind stolz auf dich und deine Familie.
Die Stimmung schlägt in dieser Erzählung um, sobald Jesus sich weigert, Wunder zu wirken wie an anderen Orten auch. Hätte nicht seine Heimatgemeinde mehr als alle anderen das Recht gehabt, die Früchte seiner wunderbaren Begabungen geschenkt zu bekommen? - Wo liegt da ein Problem, dass du so heftig reagierst?
Nicht nur in Nazareth weigert sich Jesus Wunder zu tun. Als ihn an anderen Orten Pharisäer und Schriftgelehrte aufforderten, zum Beweis seiner göttlichen Sendung Wunder zu tun, zürnt er ihnen und stellt ihnen das Zeichen des Propheten Jona in Aussicht (Mt 12,38 ff). Niemand versteht ihn. Niemand kann ihn verstehen.
Was willst du, Jesus?
In Nazareth antwortet Jesus mit zwei Hinweisen auf bekannte Prophetenerzählungen: Elija wirkte Wunder an einer heidnischen Witwe in Sarepta, bei der er während einer Hungersnot Aufnahme und Vertrauen in das Wirken Gottes fand. Ähnliches geschah zur Zeit des Propheten Elischa. Der heidnische Heerführer des aramäischen Königs wurde im Jordan von Aussatz geheilt. Er erkannte auf diesem Wege die Größe Jahwehs, des Gottes Israels.
In diesen beiden Beispielen liegt der Schlüssel zum Verständnis der Weigerung Jesu, Wunder zu tun. Wunder können leicht missverstanden werden. Auch heute noch. Man kann sie so oder so interpretieren. Die einen sehen darin eine von Gott geschenkte Wohltat. Offen bleibt die Frage: Warum erhalten diese Wohltat nicht alle Kranken und Leidenen? Andere sehen Wunder als Beweis seiner göttlicher Kraft und Sendung. Doch auch diese Sichtweise scheint Jesus zu wenig zu sein. Er weigert sich, vom Kreuz herabzusteigen, um seine Gegner von seinem göttlichen Auftrag zu überzeugen.
In vielen Wundererzählungen finden wir einen Dialog Jesu mit den Geheilten, der das Ziel seines Tuns auf den Punkt bringt: "Dein Glaube hat dir geholfen", heißt es da immer wieder. Die Wunder Jesu geschehen, wo Menschen an die Größe und die Kraft Gottes glauben. Sie sind Folge des Glaubens und führen jene, die sie miterleben zum Staunen über das Wirken Gottes.
Vereinfachend gesagt: Jesus geht es mehr darum, Glauben zu wecken und die Menschen im Glauben an das Wirken Gottes zu stärken, als Wohltaten zu spenden oder gar sich selbst als von Gott bevollmächtigten Star feiern zu lassen.
Unangenehme Fragen an uns selbst
Haben wir nicht ähnliche Erwartungen, wenn wir Gottesdienst feiern, wie die Bewohner von Nazareth? Was suchen wir, wenn wir unsere religiösen Riten und Gebräuche pflegen? Was inszenieren wir, wenn wir die Sakramente feiern?
Von manchem feierlichen Gottesdienst bin ich peinlich berührt, weil mich das Gefühl nicht loslässt, hier wird weniger das Mysterium der Eucharistie als vielmehr die Mystifizierung der Hierarchie zelebriert und den Mitwirkenden und Zuschauern als Schauspiel präsentiert. Peinlich genau wird darauf geachtet, wer was tun und welchen Satz sprechen darf. Oder es wird die kulturschaffende Kraft der Kirche vor Augen und Ohren geführt, vorzugsweise als quotenträchtiges Fernsehereignis. Oft fürchte ich, was sich zwischen den Mitfeiernden (inclusive dem Zelebranten) und Gott abspielt, bleibt auf der Strecke. Der allgegenwärtige Zwang zur Selbstdarstellung holt unser kirchliches Feiern immer wieder ein.
Auch dort, wo sich der Augen- und Ohrenschmaus und der Kulturgenuss sich aus Mangel an Kräften in Grenzen hält, beschleichen mich beklemmende Wahrnehmungen und lassen mich mit bangen Fragen zurück. Wir stillen unsere religiösen und spirituellen Bedürfnisse, indem wir die heiligen Zeichen unserer Religion begehen. Wir wiegen uns in der sakramentalen Gewissheit der Gegenwart Gottes und schöpfen daraus Kraft. Sind wir uns dabei der Gefahr bewusst, dass wir die Kraft religiöser Riten mit der Begegnung mit dem lebendigen Gott und seinem Wirken verwechseln?
Die Gegenwart Gottes erfahren
Was die Sache noch komplizierter macht: Wir brauchen religiöse Formen, Riten und Gebräuche, in denen wir unseren Glauben ausdrücken und feiern. Und es braucht eine Kultur des Feierns und des Begehens der Glaubensgeheimnisse, die uns die Kraft des Glaubens erschließen. Aber wie die Gottesdienstgemeinde von Nazareth stehen wir in der Gefahr, uns mit einem vordergründigen Ah- oder Aha-Erlebnis zufrieden geben. Es reicht nicht, dass der da vorne gut anzuhören ist, oder dass ich durch die Musik welcher Art auch immer in eine religiöse Stimmung versetzt werde. Es reicht auch nicht, dass ich Gemeinschaft erlebe oder einen spirituellen Kick bekomme und nun beruhigt und getröstet wieder heimgehen kann. All das ist gut und wünschenswert. Es geht aber um nicht weniger, als hier und jetzt das Wirken und die Gegenwart Gottes zu erfahren.
In Nazareth schlüpft Jesus in die Rolle des anstößigen Propheten und provoziert seine Landsleute, um sie zu einer persönlichen Gottesbegegnung hinzuführen. Er riskiert, dass er in der Wut der religiösen Fanatiker, die genau wissen, wie Glaube zu funktionieren hat, untergeht. Sein Ende am Kreuz ist die logische Folge seines eigenen Tuns.
Seine Rede ist aber auch da und dort, auch in Nazareth, auf fruchtbaren Boden gefallen. Viele haben alles liegen und stehen gelassen und sind ihm nachgefolgt, darunter auch seine Mutter und der "Herrenbruder" Jakobus.
Menschen, die kritische Fragen stellen, braucht es zu allen Zeiten der Christengeschichte. In der Vergangenheit sind immer wieder Frauen und Männer aufgestanden und haben provoziert, um ihre Mitgläubigen zur Mitte des Glaubens hinzuführen. Manche von ihnen sind verketzert worden und haben das Schicksal der Propheten erlitten.
Kritische Fragen zuzulassen, auszuhalten und sich damit auseinanderzusetzen, ist nach meinem Verständnis ein wesentlicher Teil kirchlichen Lebens. Mich erschüttert nicht, dass in Teilen der Kirche von Zeit zu Zeit heftig gestritten wird. In Sorge versetzt mich häufig der Stil und die Lieblosigkeit, mit denen diese Auseinandersetzungen oft geführt werden. Nie sollten wir das Ziel aus den Augen verlieren: Das Erkennen des Wirkens Gottes und die Begegnung mit dem lebendigen Gott hier und heute. Denn: "Heute hat sich das Schriftwort erfüllt, das ihr eben gehört habt."