"Reich Gottes"
"Reich Gottes" - das klingt in unseren Ohren nach "Königreich", nach "Herrschaft" und auch nach dem "Himmelreich" im Jenseits. Jesus hat dieses "Reich Gottes" oft mit Bildern und Vergleichen umschrieben. Für ihn bedeutet "Reich Gottes" Gottes Wirken mitten in der Welt, mitten in unserem Leben: Gottes Wirken, das Menschen befreit, heilt und lebendig macht.
Jesu Botschaft von den ganz anderen Maßstäben Gottes
"Gottes Reich" ist nach Jesu Verständnis überall dort, wo Menschen nach Gottes Maßstäben handeln, wo sozusagen Gottes Gesetze gelten. Die Gesetze der Welt kennen wir allzu gut: Der Stärkste zählt und gewinnt, wer fit ist, jung und gesund, gebildet und erfolgreich, wer hervorragende Leistung und Herkunft vorzuweisen hat - der gilt heute etwas. Ganz anders geht es zu, wo Gottes menschenfreundliche Gesetze gelten. Jesus hat das verkündet und gelebt:
Für ihn waren Außenseiter, Kranke, Schwache, Kinder, Fremde und Benachteiligte genauso wertvoll wie andere Menschen. Gerade ihnen hat er sich zugewendet. Er ist mit ihnen so umgegangen, dass ihr Selbstwertgefühl wachsen konnte und damit auch das Gesunde und Starke in ihnen und ihre Beziehungsfähigkeit. Seine Botschaft in Wort und Tat lautet: Das Kleine, das Schwache und Unscheinbare ist in Gottes Augen viel wert. Man muss ihm Raum geben und Zeit lassen, damit es wachsen und leben kann.
Damit sich auf diese Weise Gottes Reich in dieser Welt ausbreiten kann, hat Jesus keine Revolution angezettelt, obwohl das manche unter der Römerherrschaft gern gesehen hätten. Nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld und Entschlossenheit; nicht im Großen, sondern im Kleinen, in einzelnen Begegnungen, hat Jesus die Maßstäbe verändert. Damit hat er sich auch Feinde gemacht unter denen, die bisher das Sagen hatten und sich für besser hielten. Dafür ist er getötet worden und scheinbar selbst gescheitert: er, der selber Gescheiterten eine neue Zukunft eröffnet hat. Scheinbar gescheitert mit seiner Botschaft von Gottes Reich - und doch haben Menschen seit 2000 Jahren immer wieder erfahren und dazu beigetragen, dass Gottes menschenfreundliche Regeln im Hier und Jetzt gelebt werden.
Reich-Gottes-Erfahrungen heute - nur ein "Tropfen auf den heißen Stein"?
Und wo erleben wir das heute, in unserem Leben, in unserer Welt?
- Da hat jemand Zeit, um uns zuzuhören, wenn wir Sorgen haben.
- Eine andere ruft uns an und fragt ehrlich, wie es uns geht.
- Dort geht einer auf einen Obdachlosen zu, hockt sich dazu und spricht ihn an.
- Eine Frau geht für eine alte und kranke Nachbarin einkaufen.
- Ehrenamtliche betreuen benachteiligte Kinder bei den Hausaufgaben.
- Rentner helfen mit ihrer Berufserfahrung Jugendlichen bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle.
- Andere kümmern sich um Flüchtlinge, die alles verloren haben und dann im neuen Land unerwünscht sind.
- Menschen engagieren sich im eigenen Umfeld und in der Politik für Umweltschutz.
- In Kirchengemeinden geben Mütter und Väter ihren Glauben an Kinder weiter, indem sie mit viel Liebe und Fantasie Kindergottesdienste vorbereiten. (Beispiele aus der eigenen Gemeinde nennen!)
Dort überall gehen Menschen wie Jesus mit andern um, mit Schwachen, Ausgrenzten, Leidenden, scheinbar "hoffnungslosen Fällen". So erfahren diese in kleinen Gesten große Zuwendung und Wertschätzung. Überall da wirkt Gottes Geist, überall da ist Gottes Reich lebendig.
Aber angesichts von Leid, Ausbeutung und Gewalt in der Welt und auch in der Kirche:
Ist das nicht "nur ein Tropfen auf den heißen Stein"? Ein kleiner Tropfen auf einem heißen Stein - der sofort verdampft, ohne Spuren zu hinterlassen?
Eine neue Sichtweise des Kleinen
Auch Jesus vergleicht das Reich Gottes mit etwas winzig Kleinem: "Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn.", sagt er. Aber dann beschreibt er ganz anschaulich, wie daraus etwas Großes wird, in dem sogar Lebewesen leben und zuhause sind. Er sieht das Unscheinbare also mit ganz anderen Augen als wir es oft tun: er erkennt die großen Möglichkeiten, die im kleinen Anfang verborgen sind.
Kleine Anfänge können wir ja auch heute entdecken, wie die Beispiele eben gezeigt haben. Und was müssen wir dann alles machen, damit aus diesen Anfängen etwas ganz Großes wird? Auch das sieht Jesus anders als wir es oft tun: "Von selbst" keimt und wächst die Pflanze und reift die Frucht - "und der Mann weiß nicht wie". Nachdem er mit den kleinen Samenkörnern einen Anfang gemacht hat, geht er nur noch seinem ganz normalen Tagesablauf nach. Das Wachsen überlässt er den Kräften der Natur. Genau so, meint Jesus, müssen auch wir nicht viel zum Großwerden kleiner Anfänge dazutun.
Nicht viel machen müssen - nicht viel tun können
Wir müssen nicht viel machen - das mag uns erleichtern. Zugleich gilt aber auch: letztlich können wir nicht viel dazu tun. Das ist ungleich schwieriger zu akzeptieren. Mit Ungewissheiten leben..., Erfolg nicht herbeizwingen können..., eigene Ohnmacht aushalten... und manchmal Rückschläge erfahren... - dazu brauchen wir erst einmal viel Geduld.
Geduldig sein können wir im Alltag lernen. Wenn Sie einen Balkon oder einen Garten haben, machen Sie genau diese Erfahrung: Sie können Blumen nicht zum Blühen zwingen - Sie können sie nur wachsen lassen. Dazu eine Anregung: Betrachten Sie jetzt im Sommer jeden Tag einmal Ihre Pflanzen: Wo sind sie gewachsen? Was ist aufgeblüht, vielleicht sogar über Nacht?
Noch ein anderes Beispiel: Sie stehen mit dem Auto im Stau. Es geht überhaupt nicht mehr vorwärts und Sie wissen nicht, wie lange das noch dauern wird. Was machen Sie? Vielleicht entscheiden Sie sich, einen Umweg zu fahren. Das gibt Ihnen wenigstens das Gefühl etwas zu tun. Ob Sie damit wirklich schneller und sicherer am Ziel ankommen, sei dahingestellt. Im Stau zu bleiben und die eigene Hilflosigkeit auszuhalten ist viel schwieriger. Aber: irgendwann wird sich der Stau von selbst auflösen - ganz ohne Ihr Zutun - es geht weiter Richtung Ziel.
Ein weiteres Beispiel: Ein verstauchter Knöchel oder eine Grippe zwingt mich zum Nichtstun. Ich kann zwar die Gesundung mit dem einem oder anderen Mittel unterstützen. Vor allem aber muss ich mir die nötige Zeit lassen, damit mein Körper von selber heilen kann. Nicht umsonst hat das Wort "Patient" mit "sich gedulden" zu tun.
Die Augen öffnen für kleine Anfänge
Halten Sie einmal bei sich selbst und in Ihrer Umgebung die Augen offen dafür: wo etwas geschieht und besser wird, ohne dass Sie sich dafür abmühen müssen, wo kleine Anfänge große Kreise ziehen: Denn manche soziale Initiative hat damit begonnen, dass ein einzelner den Mut hatte etwas Neues auszuprobieren. Und damit hat er dann andere angesteckt. Und jetzt wächst das Gute.
Solche Dinge zu entdecken macht uns gelassener. Es schenkt uns Mut selbst kleine Anfänge für Gottes Reich zu setzen. Wenn wir hier und da bewusst nach Gottes Maßstäben handeln, wird Gott fürs Wachsen sorgen. Darauf dürfen wir vertrauen.
Norbert Riebartsch (2009)
Regina Wagner (1997)