Ärgerliche oder gar demütigende Lebenserfahrungen
Das ist schon eine echt doofe Situation, wenn man in einem Restaurant auf den letzten freien Tisch zusteuert und der Kellner im vollbesetzten Lokal herüber ruft: „Da können Sie nicht sitzen! Dieser Tisch ist reserviert.“ Wie schön, dass dann alle anderen von ihrem Essen aufblicken und einen erst einmal von oben bis unten mustern. Spätestens aber, wenn man dann wieder draußen ist, kann man schnell darüber lachen und versucht sein Glück eben in einem anderen Lokal.
Wenn wir allerdings versuchen, das Bild dieses Gleichnisses einmal in den Alltag zu übersetzen, dann kann es schon ernster werden. Das beginnt beim Sportunterricht, wenn sportlich nicht so begabte Schüler übrig bleiben und grundsätzlich als letzte in eine der beiden Mannschaften gewählt werden. Wenn junge Menschen erleben, wie viele ihrer Klassenkameraden schon einen Ausbildungsplatz haben, sie selbst bisher aber nur Absagen bekommen haben. Es reicht bis in die Nachbarschaft - und manchmal sogar bis in der eigene Familie hinein - wenn die anderen sich z.B. zum Kaffee verabreden und du selbst nicht eingeladen wirst. Vom Mobbing am Arbeitsplatz ganz zu schweigen.
Beim Nachdenken spüre ich also: Es ist nicht nur eine nette Geschichte, die Christus hier erzählt, sondern in ihr spiegeln sich - manchmal wirklich auch demütigende - Lebenserfahrungen wider. Erfahrungen, die die meisten von uns in der einen oder anderen Weise selber schon gemacht haben.
Weil menschliches Leben immer auch gebrochenes und unfertiges Leben ist, sind solche Erfahrungen Teil unserer Lebensgeschichte. Wir können sie weder verhindern noch uns davor schützen. Und doch versucht Christus uns dafür zu sensibilisieren, möglichst nicht selber Ursache solcher Erfahrungen für andere zu werden.
Erste und Letzte
Er lädt uns ein, die Welt aus der Sicht derer zu betrachten, für die solche Erfahrungen der Alltag sind. Zur damaligen Zeit waren dies Arme, Krüppel, Lahme und Blinde: Aus der Erfahrungen von erlebten eigenen Demütigungen ein Gespür für das Empfinden von Menschen zu entwickeln, die in ihrem Leben kaum einmal auf dem ersten Platz sitzen, sondern meistens immer unbeachtet und klein gemacht die letzten Plätze einnehmen. Im Beispiel unseres Evangeliums heißt das also: Statt die Armen draußen vor der Tür auf den Abfall des Festes warten zu lassen, soll der Gastgeber sie einladen, am Tisch Platz zu nehmen und ihnen die feinen Speisen und Getränke zuerst reichen.
Wie mögen sich also Menschen aus unserer kleinen Welt fühlen, die sich immer auf den letzten Plätzen wiederfinden? Aus diesem Mitfühlen heraus könnte es eine interessante Woche werden, die wir heute gemeinsam beginnen. Und jeder und jede kann dabei mitmachen. Vielleicht könnt Ihr, die Schüler und Schülerinnen einmal einen wachen Blick für die Mitschüler und Mitschülerinnen in Euren Klassen und Kursen haben: Wer wird oft geschnitten, ausgeschlossen, kaum einmal zu Geburtstagen eingeladen oder immer wieder ausgelacht, wenn er eine falsche Antwort gibt? Wie sieht es aus in unserer Nachbarschaft? Gibt es jemanden, der am meisten unter dem Tratsch zu leiden hat oder besonders gerne zum Thema gemacht wird? Wo können wir am Arbeitsplatz einem Kollegen oder einer Kollegin zeigen, dass sie doch nicht so einsam oder unwichtig ist und am Rande steht?
Die Welt aus der Perspektive der Verlierer wahrnehmen
Ich glaube aber, dass wir dem Evangelium nicht ganz gerecht werden, wenn wir es nur von der moralischen Seite und der Aufforderung zur Solidarität betrachten. Denn Christus hat uns dieses Evangelium vorgelebt als einer, der nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen. Er hat die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden immer wieder vom Rand der Gesellschaft in die Mitte geholt und ihnen so neue Lebensmöglichkeiten und eine neue Perspektive eröffnet. Er hat Sündern die Sünden vergeben und einen neuen Anfang geschenkt. Letztlich hat er sich auf den wirklich letzten Platz gesetzt, indem er für uns ans Kreuz geschlagen wurde. Und ist von seinem Vater von diesem letzten auf den ersten Platz gerufen worden: Als Erster ist er auferstanden von den Toten.
Diese Liebestat Christi und seine Auferstehung von den Toten sprengen den Rahmen unserer menschlichen Erfahrungen: Menschlich gesehen müssen wir die Gebrochenheit des Lebens hinnehmen und damit leben, dass es immer so sein wird: Es gibt Sieger und Verlierer. Weil Christus in seiner Auferstehung die Gebrochenheit menschlichen Lebens überwunden und geheilt hat, macht es Sinn, dagegen anzugehen: Die Welt aus der Sicht der Kleinen zu betrachten und ihnen Beachtung und Wertschätzung zu schenken.
Ich lade Sie ein, dass wir uns darum in der kommenden Woche besonders bemühen.