Tausend Bilder
"Ich sehe dich in tausend Bildern
Maria, lieblich ausgedrückt.
Doch keins von ihnen kann dich schildern
Wie meine Seele dich erblickt.
Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unnennbar süßer Himmel
Mir ewig im Gemüte steht"
(Novalis)
Erhabenheit und Niedrigkeit
Die Liturgie des Neuen Jahres beginnt mit einem Gedenken an die Gottesmutter Maria, unter deren Schutz dieses Jahr gestellt werden soll. Es gibt "tausend Bilder", in denen Marias Eingebundensein in das Heilsgeschehen zum Ausdruck gebracht wird. Unter anderen sind es die noch nicht lange zurückliegenden Marienerscheinungen von Lourdes, Fatima, Medjugorje, die durch einen besonderen Blickwinkel gekennzeichnet sind: Maria wird als in den Himmel Erhobene dargestellt mit gefalteten Händen, in denen sie einen Rosenkranz hält. Sie trägt ein langes, die Füße bedeckenden Kleid, in dem sie gar nicht schreiten, sondern nur schweben könnte. Ihr Kind trägt sie nicht auf dem Arm. Sie steht vor uns als erhabene, gleichsam entrückte Königin. Wir sind diesen Anblick gewohnt, wenngleich er uns auch in manchem befremdlich erscheinen mag.
Die Erhabenheit, ja das Abgehobensein in diesen Formen von Mariendarstellungen wirft auch die Frage auf, ob damit nicht ein um wichtige Aspekte verkürztes Marienbild vorgestellt wird. Auch Maria war eine Frau "aus dem Volk", der trotz ihrer einzigartigen Mitwirkung am Heilsgeschehen die Erfahrung des Dunklen, Rätselhaften, ja sogar Verwirrenden nicht erspart geblieben war. Der Himmel zeigte sich für sie nicht nur in der vom Dichter angesprochenen unnennbaren Süße, vor der der Welt Getümmel wie ein Traum verweht.
Schwester der Glaubenden
Maria war (auch) unsere Schwester im Glauben und sah sich in dieser ihrer Gläubigkeit so manchen Prüfungen ausgesetzt. Die in der Bibel dargestellte Heilsgeschichte um die Menschwerdung Jesu ist ja keineswegs ein idyllisches, in allem harmonisches Geschehen, das von allem Anfang an klar zu überschauen gewesen wäre. Schon die Botschaft des Engels Gabriel, dass sie einen Sohn gebären werde (Lk 1,31), veranlasst Maria zu einer Rückfrage "Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?" Aber auch der (nur an Maria, nicht auch an Josef!) gerichtete Hinweis des Engels, dass Maria vom Heiligen Geist überschattet werde (Lk 1, 35), ist nicht geeignet, völlige Klarheit zu schaffen und auftauchende Spannungen zwischen Maria und Josef sofort zu beseitigen. Es stellt sich nämlich unweigerlich die Frage, warum Josef, der ja bereits mit Marias verlobt war, zunächst nichts von dem erfuhr, was an Maria geschehen war. Das hat ja sogar den Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft gefährdet. Ein schweigender Gott ist manchmal schwer zu ertragen!
Josef musste nämlich zur Überzeugung kommen, dass das im Schoß Marias heranwachsende Kind nur aus einem Ehebruch stammen könne. Der verständlichen Reaktion Josefs, sich von Maria zu trennen, also eine Scheidung vorzunehmen, kommt ein Engel zuvor, der Josef in einem Traum die (längst fällige) Aufklärung zukommen lässt: "Fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen, denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist" (Mt 1, 20).
Das durchbohrte Herz
Der Besuch Marias bei ihrer Verwandten Elisabeth, der Mutter Johannes des Täufers, mündet in den Lobpreis des Magnifikat "Selig bist du, weil du geglaubt hast" (Lk 1,45). Aber vom greisen Simeon im Tempel vernimmt Maria ganz andere Töne: "Deine Seele wird ein Schwert durchbohren" (Lk 2, 33). Als unter dem Kreuz ihres Sohnes Stehende hat sie das bis zur Neige auskosten müssen. Da ist von erhabener Größe und Abgehobenheit nichts mehr zu sehen und zu spüren und auch ihren Sohn hält sie nur mehr als Toten in den Armen.
Aber gerade angesichts eigener Erfahrung von Leid erweist sie sich nicht als im Himmel thronende Königin, sondern als eine, die für menschliche Bedrängnis offen ist und sich Hilfesuchenden zuneigt. Goethe lässt in seinem "Faust" das unglückliche Gretchen vor einem Marienbild beten "Ach neige, du Schmerzen(s)reiche, dein Antlitz gnädig meiner Not".
Die "tausend Bilder" zeigen uns Maria zwar als gnadenvoll Erwählte und in den Himmel Erhobene, aber auch als sich Neigende, Schmerzensreiche, die menschliches Leid bis zur Neige auskosten musste. Aufgrund ihrer Mitwirkung an der Erlösung wird sie zwar nicht zur "Miterlöserin", - Erlösung kann nur durch den Mensch gewordenen Sohn Gottes gewirkt werden - sie ist aber Fürsprecherin bei Gott für uns, unter deren "Schutz und Schirm" wir Geborgenheit erfahren dürfen.