Nicht Ende oder Anfang sondern Übergang
Selten wird uns das Phänomen der Zeit so bewusst, wie am Jahreswechsel. Noch wenige Stunden, dann ist das Jahr 2015 zu Ende gegangen und wir werden ab Mitternacht „2016“ sagen. Und mit dem Neuen Jahr verbinden sich neue Hoffnungen und Wünsche, Ängste und Sorgen. Hal Borland (1900 - 1976), ein amerikanischer Schriftsteller, hat folgenden Satz geprägt: „Das Jahresende ist kein Ende und kein Anfang, sondern ein Weiterleben mit der Weisheit, die uns die Erfahrung gelehrt hat.“
Ich lade Sie ein, ein wenig der „Weisheit“ und den „Erfahrungen“ nachzuspüren, die uns das Jahr 2015 gelehrt hat. Dabei geht unser Blick sicher zunächst in unser persönliches Leben hinein: wir schauen zurück auf viele schöne Erlebnisse, auf manches Traurige, vielleicht auch auf einen schweren Schicksalsschlag, der einen getroffen hat. Und wir alle hoffen und wünschen uns, dass 2016 ein gesundes, friedliches und glückliches Neues Jahr wird.
(Bitte bei Bedarf einfügen: Wir blicken auch zurück auf besondere Ereignisse im Leben unserer Gemeinde...)
Gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen
Im Jahr 2015 standen wir aber auch vor großen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen: was wird aus dem europäischen Projekt, angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen und dem zunehmenden nationalistischem Denken in den einzelnen Mitgliedsstaaten? Wie reagieren wir angemessen auf den internationalen Terror? In welchem Land wollen wir leben? Was sind eigentlich diese berühmten „Werte“, an denen sich alle anderen orientieren sollen? Wir erleben das Suchen der politischen Eliten und die unvorstellbar großherzige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Wollen wir dann wirklich zugleich in einem Land leben, in dem Migranten und Flüchtlinge offen angegriffen werden?
Der Johannesbrief erinnert uns in seiner heutigen Lesung daran, dass wir es wissen: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist“! (Joh 2,20). Durch diese Salbung haben wir Anteil an der Sendung Christi, den der Herr selbst gesalbt hat, wie es in der programmatischen Predigt Jesu am Beginn seiner Sendung heißt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 18 ff.).
Wie kann unsere besondere „Sendung“ in 2016 angesichts der großen Herausforderungen aussehen? Natürlich können und dürfen wir die Texte der Hl. Schrift, die in anderen historischen und kulturellen Kontexten entstanden sind, nicht 1 zu 1 in die Gegenwart übersetzen. Aber sie bezeugen uns normative Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Diese Erfahrungen können uns sicher auch heute helfen.
Leben mit den Erfahrungen der biblischen Autoren
Die säkulare Welt spricht von der unveräußerlichen „Würde“ des Menschen. Für uns Christen gründet diese „Würde“ darin, dass der Mensch als „Abbild Gottes“ geschaffen wurde und dass er dieses Abbild als Mann und Frau geschaffen hat. Diese Würde geben wir uns nicht selbst und können sie auch niemals verlieren. Hier besteht unsere Sendung darin, jedem einzelnen Migranten und Flüchtling mit Respekt und Liebe zu begegnen und ihn auch so zu behandeln.
Christus hat uns das Gebot der Nächstenliebe gelehrt. Der Apostel Paulus konkretisiert dieses Gebot so: „Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben.“ (Röm 15,1) Dies gilt für das Leben innerhalb einer christlichen Gemeinde genauso wie für die Menschen, die aufgrund von Armut, Hunger oder Krieg ihre Heimat verlassen. Und genauso für ein vereintes Europa, indem natürlich die Starken nicht nur für sich selber leben dürfen, sondern auch die Schwäche derer tragen, die schwach sind.
Wie oft ermahnt uns Christus zur Gewaltlosigkeit, ja sogar zur Liebe gegenüber unseren Feinden. Das ist keine Schwäche, sondern Stärke, weil wir so dem Gegner den „Wind aus den Segeln nehmen“! Wenn ich mir die Kriege anschaue, die der Westen - mit oder ohne deutscher Beteiligung - in den letzten Jahren geführt hat bzw. noch führt - ist es durch Gewalt wirklich besser geworden? Ich frage mich, ob unsere Sendung auch darin bestehen kann, darauf immer wieder hinzuweisen und sich - auch angesichts von Anschlägen und Toten - für Frieden einzusetzen?
Weiterleben mit der „Weisheit“, die uns die Erfahrung gelehrt hat. So rät es Hal Borland zum Jahreswechsel. Wir haben einige dieser Erfahrungen, die die Autoren der Bibel uns weitergegeben haben bedacht. Zu diesen Erfahrungen gehört auch die Gewissheit, dass Gott uns in unserem persönlichen Leben nahe ist und es gut mit uns meint. Alle Erzählungen der Evangelien berichten davon, wie Christus Menschen neues Leben ermöglicht und ihnen neue Lebensqualität schenkt. Sie berichten auch davon, dass seine Liebe besonders denen gilt, die zu kurz kommen und am Rande stehen. Auf diese Liebe und Nähe Gottes will ich auch in 2016 vertrauen.
So lassen Sie uns heute das alte Jahr miteinander abschließen. Freuen wir uns auf das Neue Jahr 2016. Möge es ein gutes, friedliches und gesundes Jahr für uns alle werden. „Das Jahresende ist kein Ende und kein Anfang, sondern ein Weiterleben mit der Weisheit, die uns die Erfahrung gelehrt hat.“