Was meinen wir, wenn wir von Sünde reden?
Einer meiner Verwandten klagte mir einmal, die Messliturgie sei für ihn schwer auszuhalten. Auf Schritt und Tritt fühlte er sich klein gemacht. Die Mitfeiernden würden immer wieder angehalten, um Vergebung von Sünde und Schuld zu betteln. Er fühle sich nicht in dem Maß als Sünder, wie ihm in der Messliturgie zugemutet wird.
Ich muss gestehen, auch für mich ist die ständige Wiederkehr dieses Motivs schwer zu ertragen. Für mich selbst komme ich damit besser zurecht, seit ich versuche, zwischen Süde (Einzahl), Sünden (Mehrzahl) und Schuld zu unterscheiden. Die großen Begriffe wie Liebe, Gerechtigkeit, Gnade usw. verwenden wir meist ohne zu bedenken, was sich der Einzelne darunter konkret vorstellt. So kommt es, dass man oft aneinander vorbeiredet, weil jeder etwas anderes damit meint. Dazu gehören auch die Begriffe Sünde und Schuld. Oft werden beide Wörter in einem Atemzug genannt, obwohl sie Unterschiedliches benennen.
Sünde ist nicht gleich Schuld
Von Schuld haben wir meist eine klare Vorstellung, obwohl auch dieses Wort kaum vergleichbare Sachverhalte beinhaltet: Schulden bei Banken, kleine Kavaliersdelikte bis hin zu Kapitalverbrechen, aber auch das, was wir einander im menschlichen Umgang schuldig bleiben. Bereits hier wird Kleines und Großes vermischt. Wie weit wir für das Genannte auch verantwortlich gemacht werden können, beschäftigt Gerichte, ein Heer von Sachgutachtern, aber auch die Tagespresse und die Krimimacher. Ebenso facettenreich ist das Wort Ent-schuldigung.
Noch viel komplexer ist der Begriff Sünde. Sünde ist das, was einen Menschen absondert von den anderen, was Gräben aufreißt, Abstand schafft. Oft wird dieses Absondern durch Schuld herbeigeführt. Manche Menschen sondern sich bewusst und vorsätzlich ab. Das ist nicht immer so. Oft werden Menschen ausgegrenzt, ohne dass sie dafür etwas können. Entsprechend facettenreich ist die Verwendung des Wortes Sünde im nichtreligiösen Sprachgebrauch: Der Bogen reicht von harmlosen Diätsünden bis hin zu schweren Verbrechen...
Als brav sein wollender Kirchgeher möchte ich nicht mit all dem in einem Atemzug in Verbindung gebracht werden, auch nicht, wenn ich mir bewusst bin, dass ich nicht fehlerfrei bin. Und oft muss ich in Konfliktsituationen nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen treffen, die fragwürdig sind, ohne dass ich mich moralisch schuldig fühle. Freilich kennen wir auch Situationen, aus denen wir uns herausreden und in denen wir unsere Mitverantwortung nicht wahrhaben wollen.
Was meinen Theologen, wenn sie von Sünde reden?
Wenn im Gottesdienst von Sünde gesprochen wird, ist aber in erster Linie etwas gemeint, woran wir zunächst gar nicht denken und was viele gar nicht als Sünde empfinden. Theologisch gesehen geht es um die Trennung des Menschen von Gott, um das Fernsein von Gott, im extremen Fall um Gottlosigkeit. Viele Menschen sind froh, sich von Gott befreit zu haben, ihn losgeworden zu sein.
Es gibt Menschen, die wollen von Gott nichts wissen. Andere behaupten, sie könnten Gott nicht erkennen, und bezeichnen sich als Agnostiker und Atheisten. Wieder andere haben archaische Vorstellungen von Gott oder sind über kindhafte Gottesbilder nie hinausgekommen. Sie sind weit weg von dem, wie etwa Jesus uns Gott verkündet hat. Fern von Gott kann aber auch ein Frommer sein, der genau weiß, wie Gott zu sein hat. Dann gibt es aber auch noch viele, die zwar an Gott glauben, für die er aber im praktischen Leben keine Rolle spielt, die keinen Bezug zum ihm haben oder sich in ihrer Lebensgestaltung von keinem Gott etwas dreinreden lassen. Dieses von Gott weit weg zu sein, ist Sünde im ursprünglichen theologischen Sinn.
Gottesnähe
Im Evangelium haben wir heute gehört, dass Jesus den Jüngern, die sich aus Furcht vor den Juden versteckt hielten, erschienen sei, ihnen seinen Geist einhauchte und sie in die Welt hinaus geschickt habe mit dem Auftrag, den Menschen die Sünden zu vergeben. Sie sollen das fortsetzen, was Jesus zu Lebzeiten gepredigt und vorgelebt hat. Er hat die Kranken, die man nach damaligem Verständnis als Sünder betrachtet hat, und die gesellschaftlich Ausgegrenzten hereingeholt, ihnen die Vergebung der Sünden zugesichert und allen, die es hören wollten, verkündet: Gott ist euch nahe, er ist da. Er ist ganz anders. Gott will die Menschen mit sich versöhnen und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Jesus hat uns einen barmherzigen und weitherzigen Gott vorgestellt.
In der österlichen Aussendung geht es vor allem um diese grundsätzliche Versöhnung der Menschen mit Gott. Wir müssen uns hüten, das ausgeklügelte Sündendenken der Priesterschaft und der Pharisäer in ein christlich hierarchisches Denken zu übertragen. Jesus geht es um eine umfassende Mission der Barmherzigkeit. Wenn der Papst und die Bischöfe im Jahr der Barmherzigkeit "Apostel der Barmherzigkeit" aussenden, so tun wir gut daran, diese in diesem ursprünglichen Sinn zu verstehen und anzunehmen und sie nicht mit Agenten eines oft als unbarmherzig empfundenen Kirchensystems zu verwechseln.
Gottesnähe für Skeptiker
Aus diesem Blickwinkel erscheint der Apostel Thomas für mich in einem neuen Licht. Er wird zum Proponenten all jener, die es genauer wissen wollen, die ihren kritischen Verstand nicht auszuschalten bereit sind. Er vertritt auch die, die heute sagen: So einfach ist das nicht mit Gott. Viele religiöse Phänomene lassen sich auch anders erklären, und es gibt keine schlüssigen Gottesbeweise. Wir wollen einen kühlen Kopf und einen kritischen Verstand bewahren, auch wenn viele Menschen von etwas überzeugt sind, was sich nicht beweisen lässt. Umgestimmt wird Thomas durch die Begegnung mit dem Auferstandenen. Die Erzählung verrät nicht, ob er ihn wirklich angefasst hat. Es geht um ein Be-greifen, das auf einer anderen Ebene liegt.
Wir können wir heutigen Jesusjünger die vielen Skeptiker überzeugen? Sicherlich nicht durch Beweise, die ihrem kritischen Denken nicht standhalten. Wenn wir jedoch selbst die Barmherzigkeit Gottes leben – nach dem Jesuswort "seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist" -, wenn wir die vielen Gräben, die Menschen von Gott trennen, zuschütten und nicht müde werden, die gesellschaftlichen Gräben zwischen den Menschen einzuebnen; wenn wir das, was Menschen voneinander trennt, überwinden helfen – dazu gehört, dass wir einander die Schuld vergeben -, werden wir den Skeptikern und unseren Kritikern auf einer anderen Ebene begegnen. Das ist unser Apostolat der Barmherzigkeit.
Und in der Liturgie bleibt alles beim Alten? Liturgie kann man nicht täglich neu erfinden oder nach Belieben zurechtstutzen. Wir müssen uns hüten, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Erste Schritte können aber sein, dass wir mit den großen Begriffen wie Sünde, Schuld, Vergebung und Barmherzigkeit behutsamer und bewusster umgehen. Weiteres wird, so bin ich überzeugt, aus einer aufrichtigen Praxis von Barmherzigkeit und Versöhnung heraus folgen.