Rechenbeispiele
Für manche mag es schon länger her sein, dass sie das letzte Mal eine mathematische Gleichung zu lösen hatten. In der Schule hat man gelernt, wie das geht: der Lehrer schrieb ein Beispiel an die Tafel und präsentierte den Lösungsweg. Schritt für Schritt. Bis dann das richtige Ergebnis doppelt unterstrichen werden konnte. Anhand dieses Beispiels (und dem, was der Schüler daraus gelernt hat) konnte er nun andere Gleichungen lösen.
Der Lehrer hat ein Beispiel gegeben - und der Schüler war dadurch fähig, die anderen Aufgaben zu erfüllen und zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Ohne Beispiel und Erklärung geht das nicht.
Jesus, der Lehrer, hat an jenem Abend des Pessahfestes seine Schüler zu seiner letzten Lektion geladen. In dieser Lektion fasst er das Wesentliche nochmals zusammen. Wir erinnern uns, wie sehr Jesus in seinen Worten und Taten Menschen geholfen hat, zur Besinnung gebracht, geheilt, getröstet, zum Leben erweckt hat. Auf vielfältige Art und Weise. Wie er Gesetze und menschliches Urteilsvermögen hinterfragt hat, zum Eigentlichen zurückgeführt hat. "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10), so spricht er.
Meisterlektion
Heute geht er einen Schritt weiter. Der Meister hat seine Schüler zur "Meisterprüfung" geladen. Sein Meisterstück legt er in der Fusswaschung ab und verlangt damit viel von seinen Schülern ab: "Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe."
Nicht das Hohe und Edle ist Jesu Meisterleistung an jenem Abend, sondern das Niedrige und Arme. Das Allerletzte beim letzten Abendmahl. Eigentlich nicht etwas, worauf man stolz sein kann, geschweige denn, das man doppelt unterstreichen und hervorheben würde, sondern im Gegenteil. "Dient einander, wie ich an euch gedient habe. Ohne Wenn und Aber, ohne Kompromiss. Auch wenn es Erniedrigung bedeutet." Dieses Meisterstück will also Jesus ablegen und erwartet es auch von seinen Schülern.
Wer kann das verstehen? Wer will das auch verstehen? Wen wundert es, dass Petrus dafür nicht herhalten möchte? Wen wundert es, dass er später lieber sagt, zu dem gehöre ich nicht? Wen wundert es, dass ein anderer lieber abschleicht und sich aus dem Staub macht?
Jesus erwidert: "Was ich jetzt tue, verstehst du jetzt noch nicht. Aber später wirst du es begreifen." Und vielleicht auch wir, mit ihm.
Auf der einen Seite der Gleichung steht das Leben in Fülle, auf der anderen Seite der Dienst am Nächsten mit seinen vielen Möglichkeiten und Ausdrucksweisen. Diese Rechnung geht nur auf, wenn die Liebe mit dabei ist, wenn die Liebe das alles bestimmende Vorzeichen ist. Liebe, die vom Herzen kommt, Caritas. Liebe, die sich in tätiger Liebe äussert, Diakonie. Liebe, die über sich hinausverweist, auf den, der die Liebe selbst ist, Gott.
Ein unglaublicher Liebesdienst
Das letzte Abendmahl ist ein Liebesmahl. Die Fusswaschung Jesu ein unglaublicher Liebesdienst an den Seinen, ein Vorzeichen für das, was wir morgen am Karfreitag bedenken und feiern: "Es gibt keine grössere Liebe, als dass jemand sein Leben hingibt für seine Freunde." (1 Joh 15,11)
An diesem Abend schauen wir auf Jesus und das, was er beim letzten Abendmahl getan hat, und wir denken an jene unzähligen Menschen, die bis heute seinem Beispiel gefolgt sind, die als Christen aus ihrem Glauben heraus sich einsetzen, dass andere ein wenig besser leben oder sogar überleben können, als es ihnen ohne Hilfe möglich ist: die Krankenschwestern, die sich mühen, dem Patienten jene Medikamente und Pflege zu geben, die ihre Leiden lindern; die Eltern, die ihr Kind beim Aufgabenmachen unterstützen und nicht müde werden, ihnen jene Beispiele (nicht nur in Mathematik) aufzugeben und zu geben, die sie für ihre Entwicklung brauchen; die Lehrer und Betreuer, die Jugendliche auf ein selbständiges Leben vorbereiten; die Hilfskräfte in den Krisenregionen der Erde, die unermüdlich tätig sind...
Manche von ihnen haben sich an Jesus ein Beispiel genommen und haben sich bereiterklärt, zu dienen und lassen sich darin auch von der Liebe Jesu tragen.
"Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe." hat Jesus beim letzten Abendmahl zu seinen Jüngern gesprochen. Damit hat er seinen Jüngern und uns, die wir in seiner Nachfolge stehen und uns Christen nennen, eine anspruchsvolle Aufgabe gegeben: Nicht: "Wie du mir, so ich dir". Sondern vielmehr: "Wie ich an euch, so ihr an den anderen." Das ist eine ganz neue Art der Aufgabenstellung, die manches Mal auch ungewohnte Wege der Lösungsfindung erfordert. Und oft kann das Ergebnis nicht doppelt unterstrichen werden, weil es nicht herausragt, im Unscheinbaren erfolgt oder von vielen nicht beachtet wird.
Manches Mal genügt nicht das eine Beispiel des Lehrers. Manches Mal braucht es viele, viele Beispiele und Übung, bis der Schüler es begriffen hat. Und manches Mal braucht es auch die Ermutigung und die Geduld jener, die schon früher einmal in dieselbe Schule gegangen sind.
Jesus gibt beim letzten Abendmahl keine Einzellektion. Alle Jünger sind im Abendmahlsaal versammelt. Jeder ist gemeint. Und damit auch jeder angefragt, was sein Tun oder Nichttun ist. Landauf, landab wird das europäische Jahr der Freiwilligenarbeit begangen. Vieles von dem, was sonst unbemerkt an Gutem und Selbstlosem im Dienst an dem Nächsten und Bedürftigen geschieht, wird wahrgenommen und öffentlich gemacht, als Schatz, ja selbst als "Kirchen-Schatz" in das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Jesus hat uns in Wort und in Tat viele Beispiele gegeben. Heute dürfen wir sein Werk in der Welt weiterzuführen und selbst Beispiel für andere zu sein. Jesus selbst gibt uns dafür die Kraft, wenn er sich uns schenkt im Brot des Lebens.