Die Berufung der ersten Jünger nach dem Johannesevangelium
Im heutigen Evangelium, das von Johannes niedergeschrieben wurde, wird uns ein Bild vom Anschluss der ersten Jünger an Jesus entworfen. Dabei ist zu beobachten, dass der Evangelist Johannes die Entstehung der Jüngergruppe um Jesus ganz anders beschreibt als die übrigen Evangelisten. Bei Matthäus, Markus und Lukas beruft Jesus die Jünger unmittelbar und direkt. Er spricht sie an und fordert sie auf: Kommt, folgt mir nach! Und die Angesprochenen folgen Jesus auf der Stelle ohne Verwunderung, ohne Frage, ohne Widerspruch.
Bei Johannes wird die Gewinnung der Jünger wesentlich anders beschrieben:
- die Jünger erhalten einen Hinweis auf Jesus: "Seht das Lamm Gottes!",
- sie folgen Jesus, ohne dass er sie ruft,
- sie lassen sich einladen und verbringen viele Stunden mit dem Herrn.
- Danach sind vor allem sie es, die andere herbeiholen: z.B. den Petrus, später holt Philippus den Natanael.
Es wäre kurzsichtig und würde den Anliegen der Evangelisten nicht gerecht, würde man die unterschiedlichen Berichte gegeneinander ausspielen. Denn keiner der Evangelisten hatte das geringste Interesse daran zu schildern, wie alles haargenau abgelaufen ist. Vielmehr verbinden die Evangelisten mit allem, was sie berichten und erzählen, immer eine theologische Aussage und eine von der Seelsorge getragene Absicht. Bei aller Verschiedenheit der Darstellung des äußeren Verlaufs stimmen die Berichte in dem wesentlichen und entscheidenden Punkt überein, nämlich: Jesus sagt zu jedem einzelnen Jünger sein Ja. Darin liegt die Berufung.
Wie wird man Jünger Jesu?
Was mag Johannes, der ja als letzter sein Evangelium schrieb und der mit großer Wahrscheinlichkeit die Berichte der anderen Evangelisten kannte, bewogen haben, seinen Bericht so abzufassen, wie er uns vorliegt?
Ich bin sicher, wir deuten das heutige Evangelium vollkommen richtig, wenn wir davon ausgehen, dass Johannes am Beispiel der Täuferjünger, die sich zu Jesus aufmachten, uns den Weg weisen will, wie man Jünger Jesu werden kann und als solcher leben sollte.
Die Jünger, die hinter Jesus hergehen, sind nicht zufällig am Jordan und bei Johannes dem Täufer. Es sind Menschen auf der Suche, - Menschen, die ihr Leben nicht vergammeln und vergeuden wollen. Es sind Menschen, die nicht bereit sind, mit dem Trend der Zeit gedankenlos mitzuschwimmen. Es sind Menschen, die mit Kraft und Einsatz, Rückgrat und Format jene Wege zu gehen suchen, die sie vor sich selbst und Gott verantworten können. Weil sie ernsthaft Suchende sind, weil sie wirklich etwas wollen, darum lassen sie den Hinweis auf Jesus durch den Täufer nicht unbeachtet.
Jesus lässt die beiden Jünger gewähren. Er sucht sie nicht um jeden Preis für sich zu gewinnen. Sie sollen kommen, sich bei ihm umschauen, ihn erleben, prüfen, wer er ist, und dann entscheiden, ob sie bleiben oder wieder gehen wollen. Dies ist die Haltung, die Jesus jedem Menschen gegenüber einnimmt.
In Jesu Spuren
Deutlich können wir hier im Evangelisten Johannes den Seelsorger spüren. Er wirbt bei seinen Hörern um ein klares Ja für jene Schritte, die der einzelne unternehmen muss, wenn lebendiger Glaube gelingen soll. Und dazu gehört die entscheidende Frage, die der Evangelist Jesus in den Mund legt: "Was sucht ihr?" Wer nicht sucht, wer nicht ringt, wer nicht von innen heraus etwas anstrebt, der wird Jesus nicht folgen. Johannes möchte, dass wir das sehen und immer wieder bedenken. Echte Nachfolge Jesu fällt nicht vom Himmel, vollzieht sich nach unserer Taufe nicht automatisch. An der Qualität, der Tiefe und Lebendigkeit unseres Christseins müssen wir selbst mitarbeiten.
Diese Mitarbeit - so können wir an den beiden Jüngern beobachten - beginnt in der Begegnung mit Jesus, im Schauen auf sein Leben, sein Denken und Handeln. "Kommt und seht!" fordert Jesus die Jünger auf:
- Vergleicht meine Gesinnung mit euren Wertvorstellungen und denen der öffentlichen Meinung.
- Bewertet, welches von allen Angeboten dieser Welt das menschlichere Gesicht trägt, heilender und aufbauender ist.
- Schaut und erwägt, welches Verhalten am Ende mehr Nutzen, Frieden und Gerechtigkeit bringt.
- Stellt alles auf den Prüfstand. Lasst nichts aus. Schaut, vergleicht, erwägt, bewertet, trefft eure Wahl und Entscheidung.
Wie würde Jesus an meiner Stelle handeln?
Der Evangelist Johannes ist ein wunderbarer Seelsorger. Er verzichtet auf Vorschriften. Helfend weist er vielmehr einen Weg, wie jeder mit seinen Talenten, mit seinen Kräften, mit seiner Prägung, mit seiner Lebenserfahrung, aus seiner Situation heraus den ihm eigenen Weg zu lebendigem Christ-sein finden kann. Dieser Weg führt über ein gedankliches Verweilen bei Jesus, ein Schauen auf ihn und sich dabei fragen: Wie würde Jesus an meiner Stelle handeln?
- wenn er in meiner Familie leben würde
- mit meinem Partner verheiratet wäre
- meine Nachbarn und meine Verwandtschaft um sich hätte
- in dieser Gemeinde Mitglied wäre
- an meinem Arbeitsplatz stünde
- in der Zeit von heute lebte
Mit dieser sich regelmäßig gestellten Frage "Wie würde Jesus an meiner Stelle handeln?" treten wir ein in lebendig gelebtes Christsein. Es werden aus unserer Schwäche heraus sicher weiterhin öfter Fehler und Versagen vorkommen; aber es gibt mit dieser Frage vor allem eine klare Grundausrichtung auf Christus hin, ein Streben und Wachsen, ein von Verantwortung getragenes Handeln.
Mündig gelebtes Christentum
Mit dieser Frage treten wir sodann in mündig gelebtes Christentum ein, das sich nicht mit einem schmalen Minimalprogramm zufrieden gibt, sondern die Fülle sucht und das Machbare ausschöpfen will.
Lassen wir uns vom Herrn einladen: "Komm und sieh!", verweile, vergleiche, wäge ab, beurteile. Der Evangelist Johannes preist uns Christus nicht marktschreierisch an. Er will uns auch nicht hinterhältig ködern. Mit seinem Bericht über die Täuferjünger, die Jesus folgen, gibt Johannes uns einen gut überdachten und sehr hilfreichen Hinweis für die Praxis. Für alles Weitere tragen wir von da ab selbst die Verantwortung. Bewegen müssen wir uns selbst.
Brechen wir auf, verlieren wir keine Zeit, gestalten und formen wir unser Leben und unser Christsein.